Zweites KapitelWenn Sie schon glauben, einen Mitmenschen verachten zu müssen, dann brauchen Sie nicht erst die Skala zu studieren, um zu erfahren, dass da irgendetwas nicht ganz mit rechten Dingen zugeht (bei ihm natürlich). Aber Sie können an hand der Skala Ihre Gefühle besser verstehen und brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn Sie ihn zu Ihrer nächsten Gesellschaft nicht einladen.
Es gibt gewisse Leute, die wir zu lieben glauben – ungeachtet der ständigen Enttäuschungen, die sie uns bereiten.
Wenn das liebevoll gekochte Essen auf dem Herd erkaltet, sind wir niedergeschlagen und fragen uns: Wie, um alles in der Welt, konnten wir uns eigentlich mit einem Menschen einlassen, der noch nicht einmal anruft, wenn er nicht kommen kann?
Selten begreifen wir, dass wir einfach zuviel von den Leuten erwarten, denen wir unsere Zuneigung geschenkt haben.
Wir alle kennen auch jene etwas eigenartigen Zeitgenossen, die sich auf nicht recht erkennbare Weise in unser Leben eingeschlichen haben.
Sie scheinen ganz nett zu sein: Immer denken sie daran, zum Geburtstag eine Karte zu schicken, und sie vergessen auch nie, vor der Haustür ihre Schuhe gründlich zu säubern.
Doch irgendwie macht es keinen Spaß, einen ganzen Abend mit ihnen zu verbringen. Das Auf und Ab des Lebens
Jeder Mensch hat seine gefühlsmäßige „Kurve“.
Das heißt: Jeder bewegt sich sozusagen wie ein Wetterfrosch auf der Skala hinauf und hinab. Und das geht so von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr.
Gewinnt einer beim Skat, dann schnellt er in die Höhe. Ein anderer plumpst in die Tiefe, wenn er einen wichtigen Kunden verliert. Der Dritte verliebt sich bis über beide Ohren und glaubt in den siebten Himmel (oderAllahsReich) empor zu schweben.
Lässt ihn jedoch sein Mädchen wegen eines andern sitzen, dann stürzt er augenblicklich in tiefe Melancholie.
Kleine Kinder hüpfen oft wie mit Lichtgeschwindigkeit auf und ab. Wenn sie älter werden, pegeln sie sich allmählich auf einem Emotionsniveau (oder auf einem schmalen Abschnitt der Skala) ein und verharren dort längere Zeit.
Eines Tages fallen oder steigen sie wieder – ganz so, wie das Leben mit ihnen spielt.
Ein Mensch auf hohem Gefühlsbereich wird sich nicht auf einem bestimmten Punkt der Skala einpendeln. Er interessiert sich für alles (oder wenigstens für vieles) und kann sich für die verschiedensten Dinge begeistern. Auch wenn er einmal außer Fassung gerät und auf einen tieferen Punkt der Skala rutscht (bedingt meist durch eine Umgebung mit niedrigerem Emotionsniveau), verliert er doch seine Spannkraft nicht.
Er wird sich bald wieder erholen, nachdem er die fremden Einflüsse hat abgleiten lassen.
Ein derartiger Mensch zeigt in einer bestimmten Situation die jeweils entsprechende Emotion.
Erleidet er einen Verlust, dann empfindet er Trauer.
Wird er das Opfer eines hinterhältigen Betrugs, dann erwacht der Zorn in ihm.
Mit andern Worten: Seine Reaktion ist der Lage durchaus angepasst.
Also: Jemand, der mit den Dingen fertig wird, schwankt ständig auf der Skala; er ist beweglich.
Je besser seine Verfassung, desto flexibler ist er.
Wenn er sich einmal ärgert, dann aber richtig.
Er kommt indessen über die Misslichkeit hinweg.
Falls ihm bange wird, braucht ihn dies nicht weiter zu beunruhigen, denn über kurz oder lang wird er wieder Herr seiner Stimmung. Hin und wieder mag er ohne ersichtlichen Grund deprimiert sein, doch geht auch dieses Stimmungstief schnell vorbei. Wenn man versucht, einen Menschen zu „bessern“, darf man natürlich nicht den Fehler machen, ihn auf der Skala herabzuziehen. Wir können einen Menschen nur dadurch „läutern“, indem wir es ihm möglich machen, Kontrolle, Beweglichkeit, Aufgeschlossenheit in allen Gefühlsbereichen zu gewinnen. Fällt der Ausdruck „Kontrolle über die eigenen Gefühle“, dann wird es automatisch Leute geben, die behaupten: „Gefühle sind bloß dann echt, wenn sie spontan geäußert werden. Wer seine Gefühle beherrscht, ist einfach nicht aufrichtig!“ Es ist jedoch gerade der Mensch mit niedrigem Emotionsniveau, der sich unaufrichtig verhält – er erlebt noch nicht einmal das seiner Situation gemäße Gefühl. Er ist der Typ, der wahrscheinlich bei einer Hochzeit vor lauter Rührung in Tränen ausbricht und der vermutlich hämisch kichert, wenn einer die Treppe hinabstürzt und sich ein Bein bricht.
Nun, ist dies etwa eine aufrichtige Regung?
Wenn wir davon sprechen, dass ein Mensch auf niedriger Gefühlsebene lebe, meinen wir nicht den Chef, dem neulich der Kragen platzte, als er die unausgefüllten Lieferaufträge für die Kunden im Papierkorb entdeckte. Das allein rangiert ihn noch lange nicht in die „Zorn“ Stufe ein. Die Stufe „Zorn“ bezeichnet vielmehr jemanden, der nahezu ununterbrochen außer sich ist vor Wut.
Reden wir hingegen von Furcht, dann meinen wir nicht den Großwildjäger, der vor einem Bären davon hetzt, weil seine Büchse Ladehemmung hat.
Wir meinen damit einen Dauerzustand: die Unfähigkeit, seine eigene Einstellung und seine eigene Umgebung zu ändern.
Der tatkräftige Mensch kann handeln und auf die Handlungen anderer angemessen reagieren.
Der Mensch mit niedrigem Emotionsniveau dagegen bedient sich immerzu derselben Sätze für alle Szenen des Schauspiels.
Er handelt also der Vernunft zuwider.
Was bei Leuten mit niedrigem Emotionsniveau im Grunde nicht stimmt, ist ihre Unbeweglichkeit, ihre Starrheit.
Wenn einer Angst bekommt, ist er dann imstande, diese Angst auch zu überwinden?
Wenn er im Zorn jemanden beschimpft hat, kann er seinen Groll dann auch wieder vergessen?
Menschen, die im hohen Gefühlsbereich „zu Hause“ sind, kommen auf der Skala immer wieder nach oben. Menschen auf tieferen Stufen jedoch verweilen dort dauernd. Sicher mögen auch sie sich manchmal ein wenig nach oben oder noch weiter nach unten verändern, doch werden sie für längere Zeit ihr Stadium wohl kaum verlassen können.
Geistig normal?
Es ist leicht gesagt, ein Mann sei verrückt, wenn er behauptet, Napoleon zu sein oder wenn er bei einem Amoklauf Menschen tötet. Es besteht indessen kaum ein Zweifel daran, dass sich heutzutage eine weitaus gefährlichere Verrücktheit der gesamten Menschheit bemächtigt: Wir haben eine Gesellschaft, die rücksichtslose Zerstörung von Menschenleben und ganzen Städten erlaubt (durch Kriege und Umweltverschmutzung): eine Gesellschaft, die Millionen in die „Erforschung“ der Psychohygienie steckt, während die Nervenheilanstalten zum Bersten gefüllt sind, die Kriminalität ansteigt und der Selbstmord immer häufiger vorkommt. Wir verfügen über staatliche Einrichtungen, die dafür sorgen, dass falsch etikettierter Honig von den Regalen der Reformhäuser konfisziert wird, während sie andererseits die Aufschrift „angereichertes Brot“ auf einem Produkt gutheißen, das zumeist aus undefinierbaren Chemikalien besteht. Das Gesetz betrachtet einen Menschen dann als verrückt, wenn er „richtig“ von „falsch“ nicht unterscheiden kann. Dies aber ist kaum eine geeignete Grundlage für Urteile die wir alltäglich treffen müssen. Gemeinsam mit andern Vorteilen gibt uns die Emotionsskala einen verlässlichen Maßstab zur Beurteilung der geistigen Norm. Je weiter sich ein Mensch unten auf der Skala befindet, desto weniger ist er geistig normal. Eine scharfe Trennlinie zwischen „geistig normal“ und „geistig anomal“ gibt es freilich nicht. Jeder Mensch ist mehr oder weniger geistig normal. Er kann in einem Lebensbereich durchaus vernünftig und in einem andern völlig unvernünftig sein. Meist ist es die Intensität einer Emotion, welche die Gesellschaft veranlasst, jemanden einzusperren. Das bedeutet, dass ein Mensch auf niedriger Emotionsstufe gemeinhin für verrückt erklärt wird, wenn er alles lauthals von sich gibt, was in seinem Oberstübchen vor sich geht. Ein tobender Mann walkt zum Beispiel seine Frau mit einem Teppichklopfer durch. Ein anderer (der gleichfalls tobt) macht seine Eheliebste hingegen lediglich mit üblen Worten zuschanden. Beide verhalten sich nicht „normal“, aber die Gesellschaft sieht nur in dem ersteren eine Bedrohung. „Nach außen hin“ Die meisten Menschen verbergen ihr übliches Emotionsniveau hinter einem liebenswürdigen, nach den gesellschaftlichen Regeln bestimmten Wohlverhalten, um im täglichen Leben besser zurechtzukommen. Der Verkäufer lächelt (wenn auch nicht immer) selbst dann noch höflich, wenn er dem Kunden seine Meinung am liebsten ins Gesicht brüllen würde. Treffen wir einen Bekannten auf der Straße, dann versichern wir normalerweise, es gehe uns ganz ausgezeichnet – auch wenn wir uns elend fühlen. Mit ein wenig Übung werden Sie jedoch bald in der Lage sein, den Kern – also das konstante Gefühlsniveau – trotz der schützenden Hülle zu erkennen.
Nicht genannte Emotionen Vielleicht fällt Ihnen auf, dass einige Emotionen nicht auf der Skala angeführt sind. Die meisten von ihnen tauchen indessen als verschlüsselte Nuancierungen auf. Beklemmung, Verlegenheit, Besorgnis, Schrecken und Schüchternheit stellen mehr oder weniger starke Formen des FurchtKomplexes dar. Gefühle wie Liebe, Hass oder Eifersucht äußern sich jeweils durch das individuelle Emotionsniveau in vielfacher Klangfarbe und Schattierung. Ein Mensch, der chronisch zum Mitleid neigt, liebt ganz anders als einer, der gewohnheitsmäßig aufbraust. Ein eifersüchtiger Ehemann kann auf einen Rivalen schießen, sich aber ebenso gut auch in aller Stille vollaufen lassen. Ein Psychiater an einem Universitätskrankenhaus nahm eine fünf Jahre dauernde Untersuchung vor, bei der mehr als vierhundert todkranke Patienten befragt wurden. Zweck war es, herauszufinden, wie man den Sterbenden am besten helfen könne, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten dieser Menschen fünf Stadien durchmachten, bevor sie starben: Trotz, Zorn, Feilschen um Zeit, Trauer und schließlich Ergebung.
Innerhalb der ersten vier Stufen – so der Psychiater hatten die Patienten immer noch einen Hoffnungsschimmer. Im Endstadium „sei der Mensch meist bereit, sich mit seinem Los abzufinden“.
ZusammenfassungMenschen auf niedrigem Emotionsniveau werden stets viele Gründe für ihr Verhalten nennen: Sie werden dank ihrer Intelligenz alles tun, um ihre Überzeugungen zu verteidigen. In Wahrheit trachten sie jedoch danach, ihr emotionelles Verhalten zu erklären, über das sie gar keine Kontrolle haben.
Der chronisch zornige Mensch wird Sie mit den Worten warnen: „Nimm dich bloß in acht!“
Der ständig Apathische wird – wenn überhaupt ein Wort über seine Lippen kommt lediglich murmeln: „Man kann ja sowieso nichts ändern.“
Und jeder glaubt, was er sagt.
Wenn er lange auf einer derartigen Stimmungsebene lebt, fühlt er sich dort vertraut und ist davon überzeugt, es sei sein Recht, diese Haltung einzunehmen.
Menschen mit niedrigem Emotionsniveau sollte man beileibe nicht verachten.
Es wäre andererseits jedoch eine Selbsttäuschung, nur das Beste von ihnen zu denken, wenn die Tatsachen ihnen offensichtlich Unrecht geben.
Das Vernünftigste für sie und uns ist, sie richtig einzuschätzen. Nur so bleibt uns die Möglichkeit, sie auf der Skala „anzuheben“.
Wenn Kinder vier oder fünf Jahre alt sind, kann man beginnen, mit ihnen über die Einstufungen zu reden. Gewöhnlich sind sie sogleich begeistert bei der Sache, wenn sie die farbige Skala sehen. Das ist ein guter Start ins Leben.
Ich habe meine Söhne mit ihr vertraut gemacht und weiß nun, dass sie nie für einen Menschen arbeiten werden, der in einer niederen Empfindungsregion daheim ist. Es wird ihnen später auch nicht einfallen Leute dieser Wesensart einzustellen.
Und ganz gewiss werden sie niemals auf den Gedanken verfallen, sich einen Ehepartner auszusuchen, der unentwegt in den Niederungen der Skala watet.
Sagen Sie, um Himmelswillen, keinem Menschen jemals ins Gesicht hinein, wie Sie ihn einschätzen. Vielleicht irren Sie sich, und der Betreffende wird dann tief deprimiert sein. Stimmt Ihr Urteil dagegen, so hilft ihm das auch nicht weiter.
(Sie haben sicher schon einmal jemanden getroffen, der Ihnen selbstgefällig grinsend bescheinigte: „Ach, machen Sie doch keine vielen Worte. Sie durchschaue ich allemal.“ Waren Sie nach dieser liebenswürdigen Eröffnung etwa hocherfreut?
Mitnichten: Sie werden diesen Burschen heftig verabscheut haben – was Ihnen niemand verübeln kann.)
Studieren Sie die Skala, um jene Menschen auszuwählen, die Ihnen wahrscheinlich etwas zu „geben“ haben.
Fahnden Sie mit ihr als Hilfsmittel wie ein Detektiv in Ihrer Familie, in Ihrem Büro, in Ihrem Freundeskreis nach „faulen Stellen“. Lernen Sie, wie man Leute erkennt, und Sie werden dann nicht mehr von ihnen erwarten, als sie Ihnen ihrer Anlage nach zu offerieren haben. Es liegt bei Ihnen, andern Menschen bei dem „Erklettern“ der Skala behilflich zu sein. Versuchen Sie nicht, sich allzu viel mit Ihrer eigenen Person und deren Einordnung zu beschäftigen. Naturgemäß werden Sie bei der Lektüre gelegentlich das Gefühl bekommen, man halte Ihnen einen Spiegel vors Gesicht.
Zucken Sie dann nicht zurück. Und lassen Sie sich vor allem nicht entmutigen.