Viertes Kapitel -
https://bodhie.eu/tonWiedergutmachen (0,375)
„Wiedergutmachen: (Schaden, Böses) ersetzen, erstatten (Verlust).“ Wahrig: Deutsches Wörterbuch
Lisa entschließt sich, nicht mehr mit Oskar „zu gehen“. Er ist vernichtet.
Schluchzend und voller Selbstmitleid schwört er: „Ich werde alles tun, damit du mich
wieder liebst.“ Er ruft sie an. Er schickt ihr Geschenke. Er schreibt ihr glühende Briefe.
Er wartet an der Ecke, damit er sie „zufällig“ trifft, wenn sie das Haus verlässt.
„Bitte, Lisa“, fleht er, „sag mir doch bloß, warum du mich nicht mehr liebst. Ich mach
ja alles, was du willst. Sag mir, dass du mir noch eine Chance gibst.“ „Oskar, kapierst
du denn nicht, dass es aus ist zwischen uns? Ich will dich einfach nicht mehr sehen.“
Er lässt den Kopf hängen wie eine Primel, die man nicht mehr gegossen hat. "Mein
Gott! Was hat das Leben dann noch für einen Sinn! Am liebsten wäre ich tot. Da
kann ich mir ja gleich eine Kugel durch den Kopf jagen.“
Ein Mensch, der „wiedergutmachen“, also sühnen will, lebt in einem Zustand
der ständigen „Entschuldigung“. Dass er dabei schmeichlerisch, kriecherisch, schmarotzerisch
wirkt, merkt er gar nicht. Er will unbedingt für ein wirkliches oder eingebildetes
Unrecht Buße tun. Seine Demut und Unterwürfigkeit ist so lästig, dass wir von
Glück reden können, wenn nur wenige Leute für längere Zeit auf einem solchen Niveau
verharren. Im Allgemeinen handelt es sich um ein Durchgangsstadium, denn
falls Gesten wie "Wiedergutmachung“ nicht zum Erfolg führen, bemitleidet sich der
Betreffende mehr und mehr und verliert sich ganz (wie unser Oskar).
Der Mensch auf 0,375 will sich versöhnen. Ihn hungert nach Gunstbeweisen.
Auf dieser Ebene finden wir blinde Loyalität, Selbstaufopferung, Märtyrertum. Eine
stehende Redensart dieser Menschen lautet: „Nie im Leben werde ich Sie ganz entschädigen
können.“ Sie schmieren den Leuten den Brei ums Maul, schmeicheln und
erniedrigen sich, um Mitleid oder Hilfe einzuheimsen. Auf dieser Ebene begegnet uns
auch der Säufer, der bettelnd durch die Straßen zieht, und die Heroinsüchtige, die
der Prostitution verfällt, um sich den nächsten „Schuss“ leisten zu können.
Hilfe für den AlkoholikerDer Säufer begibt sich auf 0,375, wenn er sich noch ein Glas erbettelt (das natürlich
das allerletzte sein wird). Aber auch der Trinker, der seinem Laster entsagen
möchte, muss diese Region durchwandern, damit er geheilt werden kann. Der stets
zum Trübsinn geneigte Mensch fühlt, dass schlechterdings alles schmerzlich ist.
Rutscht er auf 0,375 ab, dann versichert er: „Ich werde alles tun, um davon loszukommen.“
Wenn sich ihm jedoch keine echte Hilfe anbietet, wird er seinen Schmerz
durch ein Betäubungsmittel los: durch den Alkohol (natürlich immer nur für kurze
Zeit, versteht sich). Hat er Glück, dann begreift er in einem nüchternen Moment, dass
seine Enthaltung sich zu einem Problem entwickelt, das größer ist als jenes, dem er
ursprünglich hatte entfliehen wollen. Seine Reue treibt ihn eine Stufe höher: Er will
wiedergutmachen. Er will sühnen. Und eben dies ist die Ursache dafür, dass die
meisten Drogen- und Alkoholentziehungskuren keinen Erfolg haben.
Jemanden von Drogen abzuhalten, ist nur eine Zwischenlösung. Will er hingegen
wirklich geheilt werden, dann muss er den festen Willen haben, selber etwas zu
unternehmen, um seiner Apathie zu entrinnen. Gelingt ihm dies, muss er sich an der
Skala weiter hinaufbewegen. Bleibt er auf den unteren Stufen, dann wird er beim
nächsten Anlass wiederum seine alten Gewohnheiten annehmen.
Zuweilen fassen Trinker von sich aus den Entschluss, dem Alkohol zu entsagen.
Fast immer aber werden sie binnen kurzem wieder rückfällig. In solchen Fällen
kann das Wissen um die Emotionsskala von Nutzen sein. Das eigentliche Problem
stellt nämlich gar nicht der Alkohol dar, sondern die Gefühlslage des Trinkers: Viele
können das Leben einfach nicht ertragen, solange sie nüchtern sind. Sie brauchen
den Rausch wie die Luft zum Atmen. Die „Kur" besteht darin, diese Leute auf eine
höhere Stimmungsebene zu heben. Unter allen Umständen müssen sie unter Menschen
kommen, die imstande sind, sie geistig und seelisch zu unterstützen. Bleiben
derart gefährdete Personen jedoch unter ihresgleichen – das heißt: unter Menschen
von niedrigem Emotionsniveau -, dann werden sie wohl nie geheilt.
Ich kannte einen gewissen Herbert, der den falschen Beruf gewählt hatte, um
seine Eltern zufrieden zu stellen. Er dachte, es fiele ihm nicht besonders schwer,
sein persönliches Ziel – nämlich Fotograf zu werden – aufzugeben. Zwanzig Jahre
später war er ein Alkoholiker und befand sich zu seiner sechsten Entziehungskur im
Krankenhaus. Der Arzt warnte ihn: „Wenn Sie jetzt nicht endlich Schluss machen,
werden Sie in einem Jahr tot sein, denn ihre Leber lässt sich diese Sauferei nicht
länger gefallen.“ Er schaffte den Aufstieg zu 0,375 und sah sich nach einer wirklichen
Hilfe um. Als er den Grund seiner Apathie begriffen hatte, gab er seinen ungeliebten
Beruf auf und wurde freier Fotograf. Seit fünf Jahren nun hat er keinen Alkohol mehr
angerührt. Er ist guter Dinge, und die Arbeit macht ihm Spaß.
„Die anonymen Spieler“Während einer Pokerpartie setzte ein Spieler sein ganzes Vermögen auf eine
Karte. Gleichmütig wartete er auf den Ausgang. Nachdem er gewonnen hatte, nickte
er nur kurz. Ein Zuschauer, den die Apathie dieses Mannes bestürzte, erkundigte
sich: „Wie können Sie denn einfach bloß nicken, wenn Sie gerade 250.000 Dollars
eingestrichen haben?" Der Spieler zuckte mit den Achseln und entgegnete: „Wissen
Sie, was mir am meisten gefiel? Der Moment, als wir auf das Ausspielen der letzten
Karte gewartet haben. Da habe ich Leben in mir gefühlt. Nur in solchen Sekunden
spüre ich, dass ich wer bin. Aufs Geld, aufs Gewinnen oder Verlieren, kommt's mir
nicht an. Das lässt mich ziemlich kalt.“
Diese Auffassung „ich bin niemand“ ist bezeichnend für apathische Menschen.
Finden sie irgendetwas, von dem sie glauben, es biete ihnen einen Ausweg (wenn
auch nur für kurze Zeit), dann werden sie süchtig. Wer seiner Sucht entfliehen will,
muss also unbedingt auf der Skala „klettern“.
Es gibt Organisationen, die sich „Anonyme Spieler“ oder ähnlich nennen. Sie
haben sich die Aufgabe gesetzt, Ehen, Familien, sogar -in besonders krassen Fällen
– Menschenleben zu retten. Das System funktioniert allerdings nur dann, wenn
der Spieler offen zugibt, dass er keine Macht über seine Spielleidenschaft hat, und
dass er, der Hilfe anderer bedarf, um seiner Schwierigkeiten Herr j zu werden. Außerdem
muss er begreifen lernen, dass er auch dann „wer“ ist, wenn er nicht mehr
spielt. Und dies erfordert natürlich ein Anheben seines Emotionsniveaus. Folglich
muss er zunächst das Stadium der Wiedergutmachung erreichen, bevor er etwas für
sich selber tun kann.
Im BerufslebenWenn jemand für einen schroffen Chef arbeitet, kann er sein Selbstvertrauen
verlieren. Dann ist der Weg nicht mehr weit bis zur Apathie: Er traut seinem eigenen
Urteil nicht mehr und glaubt auch nicht mehr an seine Leistungsfähigkeit. Gibt es jedoch
einen Hoffnungsschimmer, den Job behalten zu können, dann wird er vermutlich
nur allzu leicht ein schwächlicher „Ja -Sager“. In einem fort verteidigt er seine
entwürdigende Existenz in diesem Unternehmen und übernimmt willig selbst die beschämendsten
Handlangerdienste, um ja nicht hinausgeworfen oder „bestraft“ zu
werden. Wahrscheinlich wird er trotzdem scheitern. Bei seinen verkrampften Bemühungen,
um jeden Preis zu „gefallen“ und nicht anzuecken, verhält er sich wie ein
Stiefelputzer, dem der Stiefel dennoch dauernd wieder in den Schmutz fällt.
ZusammenfassungEin Mensch, der tief enttäuscht, ungerecht behandelt oder betrogen wird,
streicht oft die Segel und verfällt der Apathie. Solange er traurig und bekümmert ist,
findet er auch nicht die Kraft, Missverständnisse oder Irrtümer aufzuklären (weder die
seinen noch die der andern). Erst wenn er die Stufe der Wiedergutmachung erklommen
hat, bietet sich ihm eine Chance.
Eines Tages kam ein zwanzigjähriger Bekannter zu mir. „Ich weiß nicht, was in
letzter Zeit mit mir los ist“, klagte er. „Mir ist, als ginge das Leben an mir vorbei, ohne
dass ich's überhaupt merke. Was wird denn da eigentlich gespielt? Jeder andere Zustand
wäre besser als der. Was soll ich bloß machen?“ Obwohl seine augenblickliche
Verfassung ziemlich hoffnungslos schien, war er doch schon auf dem Weg der Besserung.
Einige Wochen lang befand sich dieser junge Mann in einer apathischen
Stimmung: „Mir ist alles wurscht“, schien jede seiner Gesten auszudrücken. Nun aber
war er sich wenigstens seiner Lage bewusst geworden und gesonnen, etwas zu unternehmen.
Wir plauderten eine Weile miteinander, und er erzählte mir von der großen Enttäuschung,
die ihn in diesen Zustand der Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit
gestürzt hatte. Danach weinte er – und bald danach war seine Gefühlswelt wie
umgewandelt. Voller Zuversicht ging er davon.
Wer sich im Stadium der Sühne und Wiedergutmachung befindet, ist naturgemäß
geschwächt. Kein Grund indessen, alle Hoffnung fahren zu lassen.
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