Der Matilda-Effekt ..
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Erfinder*innen (https://de.wikipedia.org/wiki/Erfinder), Metaphysiker*innen (https://de.wikipedia.org/wiki/Metaphysik), Ärzte (https://de.wikipedia.org/wiki/Arzt) oder Philosophen (https://de.wikipedia.org/wiki/Philosoph): In der Vergangenheit wurden wissenschaftliche Errungenschaften vor allem bekannten Männern zugeschrieben.
➦ Beiträge von Frauen blieben oftmals unsichtbar – das beeinflusst die Wissenschaftsszene bis heute.Liste bekannter Philosophen: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bekannter_Philosophen
Maria Mitchell (
https://de.wikipedia.org/wiki/Maria_Mitchell) im Jahr 1851. Die Astronomin und Frauenrechtlerin war eine leidenschaftliche Forscherin. 1848 wurde sie als erste Frau in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen, ein Jahr zuvor hatte sie den später nach ihr benannten Mitchell-Kometen entdeckt.
Im Jahr 1945 erhielt Otto Hahn für die Entdeckung der Kernspaltung den Nobelpreis für Chemie. Seine langjährige Kollegin, die Physikerin Lise Meitner, ging leer aus – und das, obwohl ihr Wissen und ihre Arbeit unabdingbar für die preisgekrönte Entdeckung waren.
Mit dieser Auslassung ist Lise Meitner nicht alleine. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen erlitten im Laufe der Geschichte das gleiche Schicksal: Ihre Errungenschaften wurden in der Wissenschaftsgeschichte vergessen, ausgeklammert oder ignoriert. Diese systematische Diskrimierung ist so weit verbreitet, dass sie sogar einen Namen hat:
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Was ist der Matilda-Effekt? ..
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Matilda-Effekt https://de.wikipedia.org/wiki/Matilda-Effekt .
Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Frauen in der Wissenschaft, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerechnet wird. Der Effekt wurde 1993 von der Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter postuliert. Benannt ist er nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage, die am Ende des 19. Jahrhunderts dieses Phänomen als Erste allgemein beschrieben hat. Der Matilda-Effekt ist die Kehrseite des Matthäus-Effekts, der die selbstverstärkte Anhäufung von Ansehen beschreibt und von Robert K. Merton postuliert wurde. Zugleich illustriert der Matilda-Effekt die zweite Hälfte des Zitats aus dem Matthäus-Evangelium: „… wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Matthäus 25,29 EU; aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten).
Namensgeberin des Phänomens ist die US-amerikanische Frauenrechtlerin, Aktivistin und Soziologin Matilda Joslyn Gage (
https://de.wikipedia.org/wiki/Matilda_Joslyn_Gage). Im Jahr 1870 schrieb sie ein Pamphlet mit dem Titel Woman as Inventor – Frauen als Erfinderinnen – und verurteilte die damals weit verbreitete Idee, Frauen besäßen keinen erfinderischen Drang und kein wissenschaftliches Talent: „Solche Aussagen werden leichtfertig oder unwissend gemacht. Dabei beweisen Tradition, Geschichte und Erfahrung, dass Frauen diese Fähigkeiten in höchstem Maße besitzen“, heißt es in dem Essay.
Die Aktivistin Matilda Joslyn Gage verfasste mehrere Essays und Bücher, in denen sie Kritik an der Diskriminierung von Frauen und amerikanischen Ureinwohnern sowie an der Sklaverei übte.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Margaret_W._RossiterDieses Pamphlet fiel etwa hundert Jahre später der
Historikerin Margaret Rossiter in die Hände, die seither in mehreren Büchern die Errungenschaften vergessener Wissenschaftlerinnen aufbereitet hat. In einem Essay aus dem Jahr 1993 mit dem Titel The Matilda Effect in Science nahm sie auf Gage Bezug und taufte das Phänomen der nicht beachteten Wissenschaftlerinnen auf ihren Namen. „Jüngste Arbeiten haben so viele historische und aktuelle Fälle von Wissenschaftlerinnen ans Licht gebracht, die ignoriert wurden, denen die Anerkennung verweigert wurde oder die anderweitig aus dem Blickfeld gerieten, dass hier ein geschlechtsgebundenes Phänomen vorzuliegen scheint“, schrieb Rossiter damals.
Und tatsächlich: Das Problem geht tief. „Oft ist es der Nobelpreis, den eine Wissenschaftlerin nicht bekommen hat, aber es ist viel mehr als das“, sagt Katie Hafner, Journalistin und leitende Produzentin des Podcastprojekts Lost Women of Science. „Es geht darum, nicht in einer Studie genannt zu werden; nur ein Sternchen oder eine Fußnote zu sein.“ In der Datenbank zu Lost Women of Science gibt es laut ihr Hunderte Wissenschaftlerinnen, die dem Matilda-Effekt zum Opfer fielen. „Das Problem, dass die Anerkennung nur an Männer geht, besteht schon extrem lange“, sagt Hafner. „Es ist wirklich eine Tragödie“.
Fehlende Anerkennung für Wissenschaftlerinnen
Auch bei Lise Meitner geht es um mehr als nur den Nobelpreis. Obwohl sie von ihren Eltern – vor allem von ihrem Vater – ihr ganzes Leben lang unterstützt wurde, musste sie sich als jüdische Wissenschaftlerin ihre Stellung in der Wissenschaft härter erarbeiten als ihre männlichen Kollegen. Als Otto Hahn 1945 den Nobelpreis für Chemie erhielt, wurde sie nicht nur nicht geehrt, sondern befand sich auch im Exil in Stockholm.
Dabei war das Ausmaß der Wichtigkeit von Meitners Forschung für die Entdeckung der Kernspaltung lange Zeit nicht bekannt. „Wenn man sich die Korrespondenz zwischen Hahn und Meitner ansieht, kann man aber erkennen, dass er tatsächlich nur sehr wenig von der Physik verstand“, sagt Hafner. Die Autorin Marissa Moss hat diesen Umstand aufgearbeitet und erzählt mit The Woman who split the Atom die Geschichte von Lise Meitners Kampf um ihren Platz in der Wissenschaftsgeschichte neu. Auch ihr Einsatz für den nuklearen Frieden und ihr Entsetzen darüber, für was ihre Entdeckung letztendlich – wieder von anderen Männern – genutzt wurde, wird in dem Buch aufgegriffen.
“Das Problem, dass die Anerkennung nur an Männer geht, besteht schon extrem lange. Es ist wirklich eine Tragödie.”
Doch woher kam diese fehlende Berücksichtigung der Arbeit von Wissenschaftlerinnen überhaupt? „Ich würde sagen, das liegt daran, dass Frauen lange in Positionen waren, in denen sie nicht als Autorinnen von Studien auftreten konnten“, sagt Hafner. Das habe sich erst in den letzten Jahrzehnten langsam geändert. Davor bekamen Wissenschaftlerinnen meist nur Assistenzstellen oder arbeiteten als Sekretärinnen, wurden nicht zu Dekaninnen oder Lehrstuhlinhaberinnen ernannt. Dazu mussten sie oft zusätzlich die Rolle der Hausfrau und Mutter übernehmen und wurden generell weniger ernst genommen als ihre männlichen Kollegen.
Ein weiterer Faktor ist laut Hafner, dass viele Frauen mit ihren Ehemännern, die ebenfalls Wissenschaftler waren, zusammenarbeiteten und dadurch oftmals zwar wichtige Arbeit leisteten, am Ende aber nicht gewürdigt wurden – die Errungenschaften wurden ihren Ehemännern oder Kollegen zugeschrieben.
Dabei spielte in der vergangenen Zeit wohl auch ein fehlerhaftes Verständnis von Wissenschaft eine Rolle. „Wissenschaft ist eine Gemeinschaftsleistung, und die Erkenntnisse werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben“, sagt Hafner in einer Podcast-Episode von Lost Women of Science. Lange habe aber die sogenannte Great-Man-Theory vorgeherrscht, die die Idee beschreibt, dass die Geschichte hauptsächlich von einzelnen Individuen, meist von Männern, bestimmt wird.
In diesem Sinne wurden lange Zeit auch bahnbrechende wissenschaftliche Errungenschaften nur einem Wissenschaftler oder einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern zugeordnet – auch das waren meist Männer. „Dabei ist Wissenschaft äußerst kollaborativ“, sagt Hafner. Dass in diesem Zusammenspiel viel mehr Frauen beteiligt waren als lange anerkannt wurde, kommt aber erst langsam ans Licht.
So beispielsweise im Fall der Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell, die 1967 sogenannte Pulsars, also pulsierende Radioquellen eines Neutronensterns, entdeckte. Den Nobelpreis für Physik im Jahr 1974 bekam ihr Doktorvater Antony Hewish, der zwar gemeinsam mit Bell Burnell forschte, für die Entdeckung der Astrophysikerin aber letztendlich alleinig ausgezeichnet wurde. Auch der Mikrobiologin Esther Lederberg wurde der Gewinn eines Nobelpreises zugunsten ihres Ehemanns und zwei weiteren Kollegen versagt. 1958 gewannen Joshua Lederberg, George Wells Beadle und Edward Tatum den Nobelpreis für Medizin. Esther Lederberg, die die wichtige Forschung zur genetischen Rekombination und zum bakteriellen Erbgut leitete, saß lediglich im Publikum.
Auswirkungen auf die aktuelle Forschung: Die Gender Citation Gap
Trotz enormer Fortschritte im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit in der Forschung in den letzten Jahrzehnten, ist der Matilda-Effekt bis heute relevant: Nobelpreisgewinner sind noch immer hauptsächlich weiß und männlich, vor allem in den MINT-Kategorien, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Und auch abseits des Nobelpreises zeigt sich der Effekt bis heute. Während Frauen damals kämpfen mussten, um überhaupt ernst genommen zu werden, sind Überreste der misogynen Sichtweise von früher heute immer noch zu erkennen.
Messbar ist das an der sogenannten Gender Citation Gap. Diese besagt: In wissenschaftlichen Arbeiten werden überproportional häufig männliche Forschende zitiert, während weibliche Forschende ausgelassen werden. „Der Matilda-Effekt zeigt eine erstaunliche Persistenz, und das, obwohl der Frauenanteil auf allen akademischen Karrierestufen deutlich ansteigt“, sagt Malte Steinbrink, Inhaber des Lehrstuhls für Anthropogeographie der Universität Passau und Koautor einer aktuellen Studie, die den Matilda-Effekt in der Humangeographie erforscht. Veröffentlicht werden die Ergebnisse in diesem Jahr in dem Fachmagazin GW-Unterricht.
Mit seinen Kollegen Philipp Aufenvenne, Christian Haase und Max Pochadt untersuchte er die Unterschiede in der Häufigkeit, mit der Frauen und Männer in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert werden. Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: „In der deutschen Humangeographie ist die Zitationsrate der Frauen um fast 40% niedriger“, so Aufenvenne. Das sei in anderen Disziplinen ähnlich.
Das Forschungsteam sieht eines der Probleme in unbewussten Voreingenommenheiten: „In der Wissenschaft wird das unter dem Ansatz der role congruity theory diskutiert. Das Bild vom ,männlichen‘ Wissenschaftler ist nach wie vor gesellschaftlich prägend“, so die Forschenden. In Bezug auf die Forschung besagt diese Theorie, dass Menschen Männer in der Wissenschaft als kompetenter wahrnehmen, weil sie in das Bild passen, das sie ohnehin von einem „typischen“ Wissenschaftler haben: weiß und männlich. So zeigen Studien beispielsweise, dass die Arbeiten männlicher Autoren bis heute oft ernster genommen werden als solche, die von Frauen verfasst wurden – ein Umstand, der die Arbeit von Wissenschaftlerinnen unsichtbar werden lässt.
Diese sogenannten Gender Bias gibt es laut Steinbrink sowohl bei Männern als auch bei Frauen: Beide Geschlechter zitieren Wissenschaftler überproportional häufiger als Wissenschaftlerinnen – die unbewussten Vorurteile machen also oft auch vor den Wissenschaftlerinnen selbst nicht halt.
Wie kann man gegen den Matilda-Effekt ankämpfen?
Um die Ungleichheit in der Forschung auszugleichen, muss an verschiedenen Punkten angesetzt werden: Einerseits müssen Wissenschaftlerinnen sichtbar gemacht werden, die in der Vergangenheit nicht gewürdigt wurden, und andererseits muss sich ein stärkeres Bewusstsein für Ungleichheiten in der aktuellen Forschung ausprägen. „Unseres Erachtens sind insbesondere bildungspolitische Maßnahmen geeignet. Es muss um Bewusstseinsbildung und das Hinterfragen der eigenen Zitier- und Lesepraxis gehen“, so Steinbrink. Das müsse bereits in der schulischen Ausbildung beginnen: „Unsere Annahme ist: Wenn mehr Frauen gelesen werden würden, würden Sie auch mehr zitiert“, ergänzt Aufenvenne.
Katie Hafner geht es vor allem um die Aufarbeitung vergangener Versäumnisse. „Wenn Mädchen und junge Frauen sehen, dass es ein ganzes Meer von Frauen gibt, die vor ihnen da waren und erstaunliche wissenschaftliche Leistungen erbracht haben, dann wird das in historischer Hinsicht normalisiert“, sagt sie. Das war es auch, was Margaret Rossiter mit der Benennung des Matilda- Effektes beabsichtigte: die Wissenschaftsgeschichte zu vervollständigen. Denn nur so können auch aktuelle und zukünftige Beiträge von Frauen in der Wissenschaft sichtbar gemacht werden.
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Geschichte und KulturDiskriminierung von Frauen: Woher kommt das Patriarchat?Bevor die Menschen sesshaft wurden, waren die Geschlechter weitestgehend gleichgestellt. Dann entstand die Idee vom starken Mann – doch warum? Ein Blick auf die Entwicklung der Rolle der Frau von der Altsteinzeit bis heute.
Platon und Aristoteles sind zwei der bekanntesten Vertreter der Philosophie. Von Frauen ist aus dieser Zeit kaum etwas überliefert. In der jüngeren Menschheitsgeschichte befinden sich Männer immer öfter in Machtpositionen der Gesellschaft.
Wie konnte das passieren?
Die Verbannung von Frauen aus afghanischen Universitäten, der Kampf um Freiheit in Iran oder die hohe Femizid-Rate in Deutschland: Patriarchale Strukturen ziehen sich durch fast alle Kulturen der Welt und führen in verschiedensten Bereichen der Gesellschaft zu geschlechtsbasierter Diskriminierung. Lange Zeit glaubten die Menschen, dass die Überlegenheit der Männer natürlich sei – und seit den Anfängen unserer Geschichte bestünde.
Aber die Idee, dass die Frau dem Mann untergeordnet sein soll, ist menschheitsgeschichtlich gesehen recht neu. Entstanden ist sie erst vor wenigen Jahrtausenden, als die Menschheit den Ackerbau etablierte. Wie kam es also dazu, dass Männer in der Gesellschaft so schnell so viel Macht bekamen?
Die Erfindung der sozialen Ungleichheit
Begonnen hat alles vor etwa 12.000 Jahren, als Menschen zunächst im Fruchtbaren Halbmond am nördlichen Rand der Syrischen Wüste und dann an weiteren Orten der Welt sesshaft wurden. Zuvor lebten sie hauptsächlich in nomadischen Jäger-und Sammler-Gruppen zusammen. Diese waren weitestgehend egalitär aufgebaut.
„Die Gruppen waren damals hochgradig flexibel, insbesondere in Zeiten der Knappheit. Männer, Frauen und Kinder taten also, was immer nötig war, um das Überleben der Gruppe zu sichern”, sagt die Historikerin Merry Wiesner-Hanks von der University of Wisconsin-Milwaukee, die seit Jahren zur Geschichte der Geschlechterrollen forscht.
Auch Kai Michel, Historiker und Co-Autor des Buches Die Wahrheit über Eva, in dem er gemeinsam mit dem Anthropologen Carel van Schaik die „Erfindung der sozialen Ungleichheit von Frauen und Männern” aufrollt, verweist darauf, dass die Schlechterstellung der Frauen erst mit der Neolithischen Revolution beginnt. „Jäger-Sammler-Gruppen waren extrem aufeinander angewiesen. Die Solidarität der Geschlechter war unser eigentliches Erfolgsgeheimnis“, sagt Michel. „Die Rede von Frauen als schwachem Geschlecht ist eine kulturelle Erfindung, die sich erst in den Jahrtausenden nach dem Sesshaftwerden durchsetzt.“
Schuld daran ist zunächst die neue Lebensweise, die mit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht einhergeht. Sie führt zu einer radikalen Ernährungsumstellung und einer geringeren Mobilität der Menschen. Die Abstände der Geburten verkürzen sich dadurch massiv: „Bei den Jäger-Sammlern bekommen Frauen noch alle vier bis sechs Jahre ein Kind, während die frühen Bäuerinnen fast jährlich schwanger werden“, sagt Michel. So geraten die Frauen, die zudem stark in die Feldarbeit und das Mahlen von Mehl eingebunden sind, zunächst gesundheitlich in die Defensive. Ihre Lebenserwartung sinkt.
Zugleich besitzen die Menschen in dieser Zeit erstmals Privateigentum an Land und Vorräten: „Das muss verteidigt werden“, sagt Michel. Also bleiben die Söhne bei ihren Familien und holen Frauen aus anderen Gebieten dazu. Dort verlieren die Frauen ihre Unterstützung durch eigene Familie und Freunde. Das schwächt ihre Position weiter.
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Der Einfluss von Krieg und KonfliktDurch die steigende Geburtenrate erhöht sich zudem die Bevölkerungsdichte. Konflikte um Land, Vorräte und den Zugang zu Wasser häufen sich. Das Neolithikum – die Zeit der ersten Bauern – ist die Zeit, in der erstmals richtige Kriege ausbrechen. In ihrem Buch Gender in History: Global Perspectives beschreibt Wiesner-Hanks, dass diese Form der Gewalt, die während der Neolithischen Revolution entsteht, die Welt zusätzlich zu einer Männerwelt formt: „Kriege und andere Formen der organisierten Gewalt verliehen Männern Macht. Der Kampf wurde als das Nonplusultra der individuellen sowie der kollektiven Männlichkeit wahrgenommen.“
Weiblichkeit ist im Umkehrschluss gesellschaftlich immer weniger wert. „Die Sieger von Konflikten wurden in Bildern und mündlichen Überlieferungen und später in der Schrift als männlich und viril dargestellt, die Verlierer als unmännlich, weiblich und schwach“, so die Historikerin. Dabei sind nicht nur Frauen von der Unterdrückung betroffen, sondern gleichzeitig auch Männer, die in diesem System nicht dominieren.
„An die Stelle der einstmals egalitären und solidarischen Gruppen treten anonyme und streng hierarchische Gesellschaften“, sagt Kai Michel. Für die Eliten der frühen Staaten bilden Krieg und Ausbeutung dabei die Grundlage der Macht. Laut Michel leiden darunter besonders Frauen, die zusätzlich immer mehr aus der öffentlichen Sphäre verdrängt werden – aber auch die Männer der unteren Gesellschaftsschichten. Der Grundstein des Patriarchats ist gelegt.
Römisches Mosaik aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.: die Platonische Akademie. Obwohl es in den meisten Zeitaltern auch wohlhabende Frauen gab, die Zugang zu Bildung hatten, waren Bildung und das Studium der Wissenschaften bis ins 20. Jahrhundert überwiegend Männern vorbehalten.
Die Legitimierung der Unterdrückung
Doch wie festigen sich auf der Grundlage dieser Entwicklungen die patriarchalen Strukturen, die bis heute in unserer Gesellschaft vorhanden sind? Laut Michel und van Schaik dringt männliche Dominanz schleichend in immer mehr Kulturbereiche vor – ein Zustand, der den Menschen erklärungsbedürftig erscheint. So passiert in den darauffolgenden Jahrtausenden vor allem Eines: Man sucht nach Erklärungen für das Ungleichgewicht der Geschlechter – und zwar genau innerhalb der Diskurse, die bereits von mächtigen Männern dominiert werden. In der Religion, der Philosophie und den Naturwissenschaften.
Diese Entwicklung findet sich in verschiedenen Formen in allen sogenannten Hochkulturen des Altertums wieder. „Beispielsweise taucht im alten Griechenland, wo wir es schon früh mit philosophischen und proto-naturwissenschaftlichen Begründungsmechanismen zu tun haben, die Idee auf, Frauen seien von Natur aus das schwache Geschlecht, sie seien eigentlich nichts als minderwertige Männer“, so Michel. Philosophen wie Aristoteles errichten viele ihrer Ideen auf diesem Gedanken und schließen Frauen so vor allem von politischen Entscheidungen aus.
Dasselbe passiert im Alten Rom, und auch im Alten Ägypten findet man solche Überzeugungen. Laut Wiesner-Hanks steht in der Anweisung von Ankhsheshonq, einer 2.500 Jahre alten altägyptischen Schrift: „Eine Frau zu unterrichten ist wie einen Sandsack in der Hand zu halten, dessen Seiten aufgerissen sind.”
Diese Diskurse bedingen sich mit der Zeit selbst: Frauen werden aus Machtpositionen und Bildungseinrichtungen ausgeschlossen und dadurch wiederum als weniger wert wahrgenommen, wodurch der verwehrte Zugang wiederum gerechtfertigt erscheint – ein Teufelskreis, der sich bis ins 20. Jahrhundert zieht. Zwar gibt es in der Geschichte auch immer wieder Philosophinnen und gelehrte Frauen, allerdings sind diese meist Ausnahmen von der Regel – und stammen oftmals aus wohlhabenden Familien oder Kreisen, die der Wissenschaft ohnehin schon nahestehen.
Neben dem Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben durch Wissenschaft und Philosophie beeinflusst im Westen auch ein zweiter Legitimationsversuch die Stellung der Frauen nachhaltig: der Mythos des Sündenfalls in der Bibel. Er besagt, dass Eva im Garten Eden nicht auf Gottes Wort gehört hatte – so mussten die Frauen den Männern fortan zur Strafe Untertan sein. „Eine perfekte Legitimation“, so Michel. Das Christentum habe für die patriarchalen Strukturen der westlichen Welt eine entscheidende Rolle gespielt. Ähnliche Prozesse seien aber rund um den Globus zu betrachten gewesen. „Die Religion hat das Patriarchat nicht erfunden, ihm aber den göttlichen Segen erteilt“, sagt Carel van Schaik.
Diese Narrative prägt letztendlich die gesamte christliche Welt. „Das verschmolz alles zu einem System, in dem Religion, Philosophie und Wissenschaft die männliche Dominanz bejubelten“, so Michel. In ihrem Buch bezeichnen er und van Schaik das kulturelle System, das Frauen von Natur oder von Gottes Wegen aus als schlechtere und schwachere Wesen definiert, auch als patriarchale Matrix, kurz: Patrix. „Die Patrix wird von Regeln dominiert, die Frauen systematisch benachteiligen. Das erleichtert auch die Ausbeutung von und die Gewalt gegen Frauen“, so van Schaik. Simone de Beauvoir benennt dieses Phänomen bereits in den 1940er-Jahren: Frauen sind in der Männerwelt nur „das zweite Geschlecht“.
Folgen haben diese Entwicklungen bis heute, auch für die Wissenschaft. Darunter die Idee der strikten, geschlechtsspezifischen Rollen der Jäger und Sammler sowie der Hierarchie, die damals zwischen männlichen Jägern und weiblichen Sammlerinnen angeblich herrschte. Laut Wiesner-Hanks projizierten britische Anthropologen im 19. Jahrhundert ihre eigene Lebensrealität auf unsere steinzeitlichen Vorfahren und überspitzten einerseits die strikte Geschlechtertrennung bei der Jagd und andererseits die Wichtigkeit der Jagd an sich.
„Diese Anschauungen stimmten mit ihren eigenen Vorstellungen der viktorianischen Mittelklasse von angemessenem geschlechtsspezifischem Verhalten überein“, so die Historikerin. „Männer sollten draußen in der Welt sein, Frauen zu Hause, wo sie ,Zufluchtsorte in der herzlosen Welt‘ schaffen sollten.“ Diese Idee verklärte lange Zeit das Verständnis unserer Vorfahren und wird erst langsam durch neue Funde und die Neubewertungen alter Erkenntnisse aufgearbeitet.
Die Früchte dieser patriarchalen Ideen gedeihen in Europa noch lange Zeit: Erst seit etwa 150 Jahren können Frauen sich in Universitäten einschreiben. Erst im frühen 20. Jahrhundert bekommen sie in vielen europäischen Ländern das Wahlrecht. Die katholische Kirche, die seit ihrem Aufkommen eine große Rolle bei der Unterdrückung der Frau spielt, lässt bis heute keine Frauen in hohe Positionen.
Und dennoch: Die Zeiten haben sich geändert. „Die patriarchale Matrix hat in der westlichen Welt ihre ideologischen Stützen verloren“, sagt Michel. „Heute wissen wir, dass die männliche Dominanz weder von einem Gott gewollt noch in der Natur begründet ist. Es handelt sich um eine kulturelle Verirrung – und Kultur können wir verändern.“
Deshalb sei die immer fundiertere Kenntnis der Menschheitsgeschichte so wichtig, sagt auch Wiesner-Hanks. „Männliche Kooperation und Wettbewerb in organisierter Gewalt wurden früher als die wichtigsten Triebkräfte der menschlichen Evolution angesehen.“ Heute wisse man: Gerade die Kooperation unter den Geschlechtern, darunter beispielsweise die gemeinsame Kindererziehung in der Steinzeit, heben Menschen von ihrer direkten Primatenverwandtschaft ab.
Albert Einstein veröffentlichte eine Arbeit, die er als sein alleiniges geistiges Werk ausgab, nachdem er vorher angeblich sagte: Wie glücklich und stolz werde ich sein, wenn wir beide zusammen unsere Arbeit über die Relativbewegung siegreich zu Ende geführt haben, wobei die andere Hälfte des wir sich auf seine erste Frau Mileva Marić (
https://de.wikipedia.org/wiki/Mileva_Mari%C4%87), die ebenfalls Physikerin und zudem Mathematikerin war, bezog.
Zu den weiteren Betroffene zählen: Marie Colinet (starb nach 1638), Wundärztin und Hebamme (CH)
https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Colinet Ada Lovelace (1815–1852), Erstellerin von Computerprogrammen (UK), Namenspatin der Programmiersprache Ada
https://de.wikipedia.org/wiki/Ada_Lovelace Nettie Stevens (1861–1912), Genetikerin (USA)
https://de.wikipedia.org/wiki/Nettie_Stevens Lise Meitner (1878–1968), Kernphysikerin (AT)
https://de.wikipedia.org/wiki/Lise_Meitner ➦
siehe auch: Lise-Meitner-Preis
https://de.wikipedia.org/wiki/Lise-Meitner-Preis Marietta Blau (1894–1970), Physikerin (AT)
https://de.wikipedia.org/wiki/Marietta_Blau Gerty Cori (1896–1957), Biochemikerin (USA/AT)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerty_Cori Rosalind Franklin (1920–1958), Biochemikerin (UK)
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosalind_Franklin ➦
siehe auch: Rosalind Franklin Award
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosalind_Franklin_Award Marthe Gautier (1925–2022), Kinderärztin (FR)
https://de.wikipedia.org/wiki/Marthe_Gautier