● 2. Kategorie Dialog > ★ 2.c
💝 EMOTIONSSKALA - Siebtes Kapitel - Mitleid
(1/1)
★ Ronald Johannes deClaire Schwab:
Siebtes Kapitel - https://bodhie.eu/ton
Mitleid (0,9)
“Mitleid: Teilnahme an fremdem Leid; Mitgefühl.“ Wahrig: Deutsches Wörterbuch
Michael war ein fröhlicher Mensch, der Tag für Tag zu seiner Arbeitsstätte trottete
und abends Kurzgeschichten schrieb, die er bekannten Zeitschriften schickte.
Ganze zwei wurden ihm abgenommen. Alle andern kamen postwendend zurück.
Dennoch ließ er sich nicht entmutigen und schrieb beharrlich weiter. Er gelobte sich,
eines Tages seinen langweiligen Job aufzugeben und nur noch der Literatur zu leben.
Dann heiratete er ein nettes, gutes und verständnisvolles Mädchen. Er wusste,
sie würde ihm immer zur Seite stehen, was auch kommen mochte. Und dies tat sie
wirklich. Sooft er eine Absage erhielt, tröstete sie ihn: „Armer Schatz! Sie wissen halt
dein Talent nicht zu würdigen.“ Eines Tages kam er heim und sah, dass man vier
seiner besten Geschichten zurückgewiesen hatte. Völlig niedergeschlagen warf er
sich auf einen Stuhl und seufzte: „Ich glaube, dass ich einfach nicht das Zeug dazu
habe.“ Seine zärtliche Frau setzte sich zu ihm. „Weißt du, mir scheint, du hast dich
überarbeitet. Du brauchst eine Entspannung. Warum nimmst du nicht Urlaub?“ Also
nahm er Urlaub – vom Schreiben. Michael verbringt nun seine Abende missmutig vor
dem Fernsehapparat und trinkt Bier. Die liebevolle Frau begreift, warum er seinen
Ehrgeiz an den Nagel gehängt hat. „Du hast dir soviel Mühe gemacht, und du bist
ganz bestimmt ein guter Schriftsteller. Ich bin sicher, dass die Leute, die heutzutage
veröffentlichen, die Verleger persönlich kennen.“
Sie hat echtes Mitgefühl. Sie ist in der Tat ein „Schatz“. Und sie übt einen verheerenden
Einfluss aus. Es ist nicht einfach, die Worte „Mitgefühl“ und „Übereinstimmung“
klar zu definieren. Oft, wenn wir uns höchst harmonisch mit jemandem
unterhalten haben, sagen wir: „Ich verstehe mich ausgezeichnet mit ihm.“ Oder: „Er
sympathisiert mit unserer Sache.“ Doch sehr leicht kann sich der Gesprächspartner
bloß deshalb so aufgeschlossen zeigen, weil er sich davon einen Vorteil für sich
selbst verspricht. Und wer von uns wäre schon so stoisch veranlagt, dass es ihn
nicht freuen würde, ein Wort des Mitgefühls zu hören, wenn ihm etwas abhanden
gekommen ist, das er geschätzt hat?
Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Übereinstimmung sind ungemein liebenswerte
Empfindungen, die unser Herz erwärmen. Doch Mitleid ist etwas anderes.
Der Mensch auf Stufe 0,9 ist ein Fälscher. Er ist nicht auf spontane Weise freundlich:
Er empfindet unentwegt Mitleid. Er kann überhaupt nur bedauern.
Übereinstimmung
Das besondere Merkmal dieser Emotion ist der besessene Wunsch zur Zustimmung
und Übereinstimmung um jeden Preis. Wir haben es hier mit dem „Furcht“-
Bereich der Skala zu tun, und der Mensch auf Stufe 0,9 wird von der Furcht beherrscht.
Auf dieser Ebene bedeutet Mitleid nicht etwa Mut sondern eher Feigheit,
die der Angst entstammt. Man will dem andern nicht wehtun. Personen, die sich auf
dieser Stufe bewegen, leiden unter dem zwanghaften Wunsch, verständnisvoll und
einsichtig gegenüber allen Leuten zu sein, deren Gefühlslage wir dem unteren Skalenbereich
zurechnen. Solche Personen drängt es, auch Verständnis für brutalste Mörder aufzubringen.
Mitgefühl bedeutet, „gemeinsam mit einem andern Menschen empfinden zu
können“. Wer demnach imstande ist, sich in die Mentalität eines Menschen mit hohem
Emotionsniveau einzufühlen, ist gut dran: Das gemeinsame Empfinden hebt auch ihn.
Doch jemand auf Mitleid (0,9) kann die Leute auf hoher Stimmungsebene nur
gerade eben noch tolerieren. Am wohlsten ist ihm zumute, wenn er bekümmerte und
apathische Mitmenschen bedauern kann. Natürlich bewirkt diese wechselseitige Art
des gemeinsamen Fühlens, dass er wie ein Betrunkener durch die niedrigen Emotionsbereiche
taumelt – hin und hergerissen zwischen selbstgefälliger Zärtlichkeit und plötzlichen Tränenausbrüchen.
Er wirkt harmlos. Und genau dies will er. Verzweifelt möchte er verhindern,
dass man ihn irgendwie beschuldigt. „Siehst du, wie gut ich dich verstehe? Siehst du,
dass ich niemanden verletzen kann?“ Seine Sucht nach Lob und seine Furcht vor
Schelte machen ihn notgedrungen verständnisvoll.
Wir unterhielten uns auf einer netten und ruhigen Gesellschaft über die Zukunft
der Religionen, als unser Bekannter Carl verächtlich das Gespräch unterbrach:
„Ihr habt doch sicher Schermerhorns Theorie über Strafen und Missstände gelesen?"
Keiner war im Bilde, aber Carl redete auch schon verworren weiter. Als er einmal
Atem schöpfen musste, nahmen wir unsere Unterhaltung wieder auf. Einer sagte:
„Ich finde, die meisten Menschen müssen an etwas glauben, ob man es nun Religion
nennt oder nicht. Wenn also. .." Spöttisch fiel Carl dem Sprecher ins Wort: „Das ist
doch kindisch! Meiner Meinung nach gibt es nur einen vernünftigen Standpunkt.
Vosgartens Abhandlung über die große Besessenheit sagt alles. ..“ Nachdem er zwei
Stunden lang Carls unverschämte Arroganz und seine unverständlichen Reden ertragen
hatte, fuhr ihm ein anderer Gast scharf in die Parade: „Menschenskind, warum
sagen Sie nicht endlich, was Sie eigentlich wollen? Wir verstehen Sie nicht.
Wissen Sie denn überhaupt, was Sie da von sich geben?" „Es ist genau so, wie
Wumvoogen sagt…" „Fangen Sie nur nicht von neuem an! Ich versuche gerade, Ihnen
klarzumachen, dass wir Sie nicht verstehen können. Ihr Geschwätz ist sinnlos.
Sie haben zwar die Unterhaltung an sich gerissen, aber nicht das Geringste gesagt.
Außerdem hören Sie ja gar nicht zu, wenn die andern Ihnen etwas sagen.
Was ist denn mit Ihnen los?"
Zu unserer größten Verwunderung fielen Carls Rechtfertigungsversuche wie
ein Kartenhaus zusammen, und in seine Augen traten Tränen. Obwohl nun jeder ein
wenig Mitleid für ihn empfand und sich bemühte, das Gespräch wieder in allgemeine
Bahnen zu lenken, fand sich nur ein zwanghaft mitleidiger Mensch. Eine hübsche
junge Frau namens Judith, die sich bis jetzt sehr still verhalten hatte, beugte sich zu
ihm. „Carl“, sagte sie, „ich sehe in Ihnen große Qualitäten.“ „Meinen Sie das etwa im
Ernst?“ „Ja, natürlich.“ „Ach, viele Leute behaupten das, aber letzten Endes ist es
doch bloß Gerede. Es bedarf mehr als nur schöner Worte, um mich zu überzeugen.“
„Ich möchte aber wirklich, dass Sie mir glauben. Ich meine es nämlich ehrlich.“
Hier erlebte ich den Beginn einer Verbindung, die zweifellos komplizierte Folgen
haben würde. Judith hatte in Carls grober Anmaßung nichts „Großes“ sehen
können. Erst seine hilflose Traurigkeit hatte sie aufgerüttelt. Reizvoll würde dieses
Verhältnis gewiss sein. Allerdings würden diese „Reize“ sehr zu Lasten von Judiths
(und auch Carls) Seelenleben gehen.
Eine unglückliche Geschichte
Mitleid wirkt destruktiv, weil es dem Menschen auf niedrigem Emotionsniveau
suggeriert: „Die Hilflosigkeit, die du dir selber gegenüber fühlst, ist so gerechtfertigt,
dass auch ich sie empfinde.“
Eine derartige Hilfe braucht niemand, denn sie hilft ihm nicht weiter. Sie verstärkt
vielmehr die Probleme, nicht aber die Fähigkeit zu deren Lösung. Sie entzieht
ihm die Verantwortung. „Ach, du Armer. Die Welt behandelt dich so schlecht.“ Der
Mensch in höherem Empfindungsbereich sagt: „Na gut. Das ist eine unglückliche
Geschichte. Aber sehen wir doch mal nach, was eigentlich bei der ganzen Sache
falsch gelaufen ist. Dann können Sie es ja noch einmal versuchen.“ Doch der chronisch
mitleidige Mensch liebt die Gesellschaft. Deshalb gestattet er keinem, sich von
einem Fehlschlag zu erholen und nochmals neu zu beginnen. Täte er dies, dann hätte
er ja niemanden mehr, dem er sein Mitleid angedeihen lassen könnte.
Wer auf hoher Stimmungsebene lebt, wirft dem Ertrinkenden ein Rettungsseil
zu. Der stets Mitleidige jedoch springt ins Wasser und ertrinkt gleichfalls.
Die Lebensuntüchtigen
Es kommt vor, dass uns mitleidige Leute lieber sind als die aggressiven zwischen
1,1 und 2,0 auf der Skala. Sie machen uns weniger Schwierigkeiten. Sie verlangen
nicht, dass wir uns ändern. Sie sind nicht übertrieben kritisch.
Wenn wir meinen, den Kopf betten zu müssen, um uns einmal richtig auszuweinen,
ist der mitleidige Freund schon da. Es ist ja so bequem, jemanden zu haben,
der uns kritiklos akzeptiert, wenn es uns schlecht geht. Doch ein derartiger Mensch
ist mehr oder weniger lebensuntüchtig. Er unternimmt nichts, um die Zustände zu
verbessern. Eine Person mit hohem Emotionsniveau sagt: „Sie sind angeschlagen,
aber wir werden das schon wieder hinkriegen.“ Der Mann auf Stufe 0,9 hingegen nähert
sich auf derselben Wellenlänge und meint: „Ach, du bist ja ganz erschöpft. Wir
müssen uns um dich kümmern." Wohlweislich sagt er nicht „in Ordnung bringen“,
sondern „kümmern“. Dadurch drückt er eine deprimierende Unbestimmtheit aus.
Mitleidige und sich um die Gunst anderer Bemühende findet man vor allem
unter kranken Menschen. Und wenn die Leute noch nicht krank sind, dann hilft ein
solcher Mensch ihnen, es zu werden. Wird der Empfänger all dieser Freundlichkeiten
davon überzeugt, dass er diese „Fürsorge“ braucht, dann bleibt er unten auf der Skala.
Der 0,9er ist zu ängstlich, andern weh zu tun, so dass er nichts Wirkungsvolles
zustande bringt. Er stimmt nur immer sogleich zu, wenn jemand behauptet, alles
sei doch schrecklich. Leute auf hohen Stimmungsebenen scheuen sich nicht, einem
andern Menschen einer guten Sache zu liebe einmal Schmerz zu bereiten. Sie vermögen
die notwendigen Schritte zu unternehmen. Der Mitleidige dagegen setzt sich
zum Alkoholiker und betrinkt sich mit ihm, anstatt ihm zu helfen.
Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, um herauszufinden, ob ein Mensch aus
Mitleid (0,9) handelt oder sich Wohlwollen erkaufen möchte. Zwar weisen beide Stufen
einige Unterschiede auf, aber sie liegen dicht beieinander. Eine Mutter sagt beispielsweise.
„Es ist heute zu kalt. Du kannst nicht zu Fuß fortgehen.“ (Das ist Mitleid.)
Dann aber fährt sie fort: „Ich werde dich in die Schule fahren.“ (Diese Äußerung
fällt in die Kategorie des Wohlwollens.)
Ein Student meint: „Es ist zu dumm, dass du während der Vorlesungen immer
einschläfst. Na ja, nimm meine Notizen. Du kannst sie ruhig abschreiben.“.
Die Sünde des Mitleids
Mitleid kann zu einer Sünde werden, nämlich zur Sünde der Unterlassung.
Wer nicht handelt, nicht kontrolliert, nicht zur Ordnung ruft, keine Widerstandskraft
aufbringt, der begeht eine Sünde. Die Barmherzigkeit und die Nachsicht des chronisch
mitleidigen Menschen bestärken den auf niedrigen Gefühlsebenen Stehenden
in seiner Haltung.
Der Mitleidige wirkt destruktiv, wenn er mit Leuten zusammen ist, die ihm
emotionell überlegen sind. Denn im Geheimen möchte er sie so beeinflussen, dass
sie sein Mitleid benötigen. Geduldig wartet er, bis andere einen Rückschlag erleiden
– dann wird nämlich er lebendig: Er „dämpft“ sie, indem er sie bemitleidet.
Das Mitleid kennt viele Mittel, um Menschen auf höherer Stufe zu „verstümmeln“.
Der Chef wird böse, wenn er hört, dass der „pichelnde“ Verkäufer einen Kunden
unsanft behandelt. Er möchte ein für allemal reinen Tisch machen. Doch schon
naht der Mitleidige und schnurrt besänftigend: „Aber, aber, Chef. Natürlich ist die Sache
ärgerlich, aber lassen Sie das mich mal in die Hand nehmen. Ich habe mehr Geduld als Sie.“
An der Spitze der Skala mag Geduld eine Tugend sein, aber bei 0,9 ist sie nur
ein beschönigender Ausdruck für, Schwäche.
Der tödliche Kreislauf
Jeder Mensch, auch jener, der sich oben auf der Skala befindet, verfällt zuweilen
in Niedergeschlagenheit. Der Mitleidige jedoch neigt stärker als jeder anders Gestimmte
dazu, sich in einem ständigen Kreislauf von Glück und Melancholie zu drehen.
Sein „Glücklichsein“ ist nicht besonders wünschenswert: Es ist meist Selbstgerechtigkeit.
„Ach, wie bin ich doch so barmherzig und mitleidig! Keinem, der mich
brauchte, habe ich jemals den Rücken gekehrt.“
Magisch zieht er die Außenseiter der Gesellschaft an. Er schenkt sein Interesse
den Kriminellen, den Invaliden, den Pennern, den Süchtigen, den Trinkern und
allen traurigen und apathischen Typen überhaupt, die er nur auftreiben kann. Ihren
Lügen geht er sogleich auf den Leim. Ein vom Gram Verzehrter klagt: „Ich habe kein
Geld, keine Arbeit, keine Freunde.“ Der Mitleidige erwidert umgehend: „Armer Teufel.
Das Leben hat Ihnen bös mitgespielt. Aber ich werde Ihnen selbstverständlich helfen.“
Dann besorgt er eine Bleibe, schafft Essen herbei, steckt dem Gestrandeten
Geld in die Tasche – vielleicht sein ganzes Leben lang. Bald fällt auch er dem großen
Jammer anheim, und wir hören ihn beteuern: „Ich habe alles nur Mögliche getan,
aber nichts scheint zu helfen.“
Wenn der mitleidige Mensch nicht gerade die Armen in der Tiefe umsorgt, verteidigt
er doch rücksichtslos die destruktiven Typen auf 1,0 bis 2,0 der Skala. Er besteht
darauf, dass niemand durch und durch schlecht sei. In Zweifelsfällen gibt er ihnen Recht.
Dieser Mensch ist das leichtgläubigste Opfer der im Gefühlsbereich 1,1 operierenden
Schwindler. Da er im Handumdrehen zu beeinflussen ist, lässt er sich
rasch bestechen. Der redegewandte 1,1 er kann ihn zu allerlei Perversionen und
Verbrechen verführen. Derartige Taten bringen den Mitleidigen naturgemäß in
Schwierigkeiten. Und schon hören wir ihn wieder klagen.
Da er zu schwach ist, mit den Leuten auf niedrigem Niveau (die er anzieht)
richtig umzugehen, bleibt er wie in einem Aufzug eingeschlossen, der vom obersten
Stockwerk „Mitleid“ in den Keller „Apathie“ auf- und abfährt. Seine zwanghafte Verständnisbereitschaft
gestattet ihm keinen Rückzieher. Man vermag ihn an seiner
schwankenden Haltung zu erkennen. Selbst wenn Sie ihm klarmachen, dass er sich
mit Leuten auf niedrigem Gefühlsbereich abgibt, sieht er sich doch außerstande, sich
von ihnen zu lösen. (Er ist dazu auch nicht gewillt, denn dadurch könnte er seine
Partner ja kränken.)
Aus diesem Grunde wird ein solch netter Mensch auch so oft an der Nase
herumgeführt. Aber er ist ja so edel. Bald kriecht er wieder auf die Stufe des Mitleids
zurück und fängt das alte Spiel von neuem an.
Im Geschäftsleben
Wenn Sie ein Unternehmen leiten und zahlungsfähig bleiben wollen, dann
setzen Sie nie einen „Mitleid“ – Menschen als Abteilungsleiter ein. Seine übergroße
Angst, andern wehzutun, kann gefährlich werden. Er wird auf seinem Posten nicht
viel ausrichten können. Vermutlich wird er Ihre Gewinne verschleudern und „Verlierer“-
Typen einstellen, denn er sympathisiert ja so sehr mit ihnen. Er wird nicht eher
Ruhe geben, bis Sie das jammernde Mädchen engagiert haben, das im Leben schon
so viel Pech gehabt hat. Schützend wird er sich vor einen Mitarbeiter stellen, der seine
Zeit vertrödelt, denn er hat „eine kranke Frau und eine ganze Kinderschar.“
Im Familienleben
Mitleidige Menschen machen häufig schlechte Partien. Ein reizendes Mädchen
heiratet einen Mann, der „auf den Hund gekommen ist“, weil sie es einfach
nicht ertragen kann, seine Gefühle zu verletzen.
Die 0,9er gehören zu den denkbar schlechtesten Eltern. Ihre Neigung,
schlechthin alles zu erlauben, züchtet ein unbeherrschtes Kind heran, das später
seinerseits destruktiv handeln wird.
Liebevolle Eltern sind rasch mit dem Mitleid bei der Hand. Wer von uns bleibt
schon unbeteiligt, wenn wir ein kläglich schluchzendes Kind sehen, dessen Eistüte in
den Schmutz gefallen ist? Automatisch tröstet man: „Na, komm. Hör doch auf zu
weinen. Ich kauf dir ein neues Eis.“ Damit tun wir dem Kind freilich keinen wirklichen
Gefallen: Zwar besänftigen wir es für den Augenblick, aber wir vergessen dabei,
dass das Kind aus unserer spontanen Reaktion einen falschen Schluss ziehen kann,
der ihm in der Zukunft schaden wird. In den meisten Fällen sagt sich das Kind nämlich
im Stillen: „Aha. Es ist also egal, ob ich nachlässig oder vorsichtig bin. Wenn ich
bloß laut genug schreie, kommt schon einer an, der mich bedauert und mir hilft.“
Grausam wäre es allerdings, wollten wir lediglich mit den Achseln zucken und brummen:
„Da hast du aber Pech gehabt. Du musst künftig besser acht geben.“
Wie verhält sich ein Mensch auf hohem Emotionsniveau in einer solchen Situation?
Nun, er gibt dem Kind Gelegenheit, die Situation mit Würde zu meistern und
ihn nicht zum Bettler werden zu lassen. Er wird vielleicht fragen, ob der Kleine nicht
rasch eine Besorgung machen möchte, um sich dadurch ein neues Eis zu verdienen.
Kinder, die immerzu quengeln, verraten dadurch ungewollt, dass sich ihre Eltern in
den Regionen des Mitleids und des Gunstbemühens festgefahren haben. Offenbar
haben sie dem Begehren ihres Sprösslings bereits wiederholt nachgegeben. Deshalb
benimmt sich das Kind weiterhin so. Seine Eltern belohnen es demnach gewissermaßen
für seine Schwäche. Woher soll es später einmal eigene Kraft beziehen?
Mitleidige Eltern fragen oft verwundert: „Was haben wir denn nur falsch gemacht?“
Das Kind entwickelt sich zu einem unreifen Erwachsenen, der sich jammernd
durchs Leben schlägt und Ausschau hält nach einer Aufsichtsperson, die natürlich
gleichfalls der Meinung sein muss, dass dieses Dasein einfach schauderhaft sei.
Als Kind kannte ich einen Jungen, der immer wieder von den Buben der
Nachbarschaft durchgeprügelt wurde. Als er eines Tages wieder heulend nach Hause
kam, entschloss sich seine Mutter, diesmal kein Mitleid zu haben. „Du gehst jetzt
sofort zurück und verhaust einen dieser Burschen. Wenn du das nicht tust, dann lege
ich dich übers Knie.“
Diese Reaktion erschreckte den Jungen: Sie erschreckte ihn mehr als die Wut
seiner Widersacher. Also ging er tatsächlich davon und verprügelte einen der kleinen
Rowdies nach allen Regeln der Kunst. Es war das erste Mal, dass er sich zu einer
solchen Heldentat aufgerafft hatte. Die Wirkung zeigte sich sogleich: Er selber gewann
eine ihm bislang fremde Zuversicht, und die Jungen der Nachbarschaft respektierten
ihn bald als den „besten Kämpfer“. Wenn ich mich recht entsinne, wusste er
es mit jedem Raufbold aufzunehmen. Dennoch wurde er ein friedfertiger Mensch der
sich freilich in allen Lagen verteidigen konnte.
Eine Mutter, die von ihrem chronischen Mitleid nicht loskommt, zieht in ihrer
„Verständnisinnigkeit“ einen Jungen groß, der im Existenzkampf versagen wird.
Selbstverständlich empfehle ich keineswegs, unsere Kinder zu Rowdies zu machen.
Wir sollten jedoch erkennen, dass „Kämpfen“ anständiger ist als „Kapitulieren“. Wer
nicht kämpfen kann, vermag auch nicht auf der Skala nach oben zu steigen.
Zusammenfassung
Wir halten den für einen netten Jungen, der das hilflose „Mauerblümchen“ heiratet,
weil „es ihn braucht“. Doch nicht jeder, der blinden Kindern Märchen vorliest, ist
ein chronisch mitleidiger Mensch. Auch Leute auf hoher Gefühlsebene kümmern sich
um ihre Mitmenschen. Wahrscheinlich werden sie die ersten sein, die Kindern das
Lesen der Blindenschrift beibringen.
Falls Sie jemandem begegnen, der sich nur schwer auf der Skala einordnen
lässt (ein Mensch, der zu edlen Taten und löblichen Zielen neigt, aber körperlich und
geistig Mitgenommene aufliest), dann irren Sie sich vermutlich nicht, wenn Sie auf
einen „Mitleid“-Menschen tippen.
Bevor ich mich intensiver mit diesem Gefühlsbereich befasste, war ich der
Meinung, hier seien wohl nur wenige Leute anzutreffen. Ich dachte an jene Sorte von
Menschen, die Gefallen daran finden, an Beerdigungen teilzunehmen und Kränze
auf Gräber zu legen. Schlimmer hätte ich mich gar nicht täuschen können. Ich kam
zu der einigermaßen schockierenden Erkenntnis, dass diese Stufe eine der am dichtesten
bevölkerten der Skala ist. Wer nicht schon dort angesiedelt ist, wird häufig
durch die Hilfsaktionen der Öffentlichkeit zum Mitleid geradezu gezwungen. Beim
näheren Studium bemerkte ich, dass sehr viele Leute, die ich besonders gern mochte,
bei 0,9 einzustufen waren. Ich hatte sie für "höherstehend“ gehalten.
Das Mitleid überzeugt einen Menschen davon, dass er verloren hat. Und
glaubt er erst einmal, dass er verlieren kann, dann wird er zum Siegen nicht mehr
imstande sein. Wenn ein Mensch die wohlige Wärme des Mitleids entdeckt hat, beginnt
er alsbald, sich nach ihr zu sehnen. Er kann derart abhängig von ihr werden,
dass er sich einen Unfall oder eine Krankheit herbeiwünscht, damit er ja noch mehr
von dieser anheimelnden Wärme bekommt.
https://bodhie.eu/ton
Navigation
[0] Themen-Index
Zur normalen Ansicht wechseln