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✨ Stimmungen des Seins-Mitleid
(1/1)
★ Ronald Johannes deClaire Schwab:
“Mitleid: Teilnahme an fremdem Leid; Mitgefühl.“
Michael war ein fröhlicher Mensch, der Tag für Tag zu seiner Arbeitsstätte trottete und abends Kurzgeschichten schrieb, die er bekannten Zeitschriften schickte. Ganze zwei wurden ihm abgenommen. Alle andern kamen postwendend zurück. Dennoch ließ er sich nicht entmutigen und schrieb beharrlich weiter. Er gelobte sich, eines Tages seinen langweiligen Job aufzugeben und nur noch der Literatur zu leben. Dann heiratete er ein nettes, gutes und verständnisvolles Mädchen. Er wusste, sie würde ihm immer zur Seite stehen, was auch kommen mochte. Und dies tat sie wirklich. Sooft er eine Absage erhielt, tröstete sie ihn: „Armer Schatz! Sie wissen halt dein Talent nicht zu würdigen.“ Eines Tages kam er heim und sah, dass man vier seiner besten Geschichten zurückgewiesen hatte. Völlig niedergeschlagen warf er sich auf einen Stuhl und seufzte: „Ich glaube, dass ich einfach nicht das Zeug dazu habe.“ Seine zärtliche Frau setzte sich zu ihm. „Weißt du, mir scheint, du hast dich überarbeitet. Du brauchst eine Entspannung. Warum nimmst du nicht Urlaub?“ Also nahm er Urlaub – vom Schreiben. Michael verbringt nun seine Abende missmutig vor dem Fernsehapparat und trinkt Bier. Die liebevolle Frau begreift, warum er seinen Ehrgeiz an den Nagel gehängt hat. „Du hast dir soviel Mühe gemacht, und du bist ganz bestimmt ein guter Schriftsteller. Ich bin sicher, dass die Leute, die heutzutage veröffentlichen, die Verleger persönlich kennen.“ Sie hat echtes Mitgefühl. Sie ist in der Tat ein „Schatz“. Und sie übt einen verheerenden Einfluss aus. Es ist nicht einfach, die Worte „Mitgefühl“ und „Übereinstimmung“ klar zu definieren. Oft, wenn wir uns höchst harmonisch mit jemandem unterhalten haben, sagen wir: „Ich verstehe mich ausgezeichnet mit ihm.“ Oder: „Er sympathisiert mit unserer Sache.“ Doch sehr leicht kann sich der Gesprächspartner bloß deshalb so aufgeschlossen zeigen, weil er sich davon einen Vorteil für sich selbst verspricht. Und wer von uns wäre schon so stoisch veranlagt, dass es ihn nicht freuen würde, ein Wort des Mitgefühls zu hören, wenn ihm etwas abhanden gekommen ist, das er geschätzt hat? Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Übereinstimmung sind ungemein liebenswerte Empfindungen, die unser Herz erwärmen. Doch Mitleid ist etwas anderes. Der Mensch auf Stufe ist ein Fälscher. Er ist nicht auf spontane Weise freundlich: Er empfindet unentwegt Mitleid. Er kann überhaupt nur bedauern. Übereinstimmung? Das besondere Merkmal dieser Emotion ist der besessene Wunsch zur Zustimmung und Übereinstimmung um jeden Preis. Wir haben es hier mit dem „Furcht“ Bereich der Skala zu tun, und der Mensch auf Stufe wird von der Furcht beherrscht. Auf dieser Ebene bedeutet Mitleid nicht etwa Mut sondern eher Feigheit, die der Angst entstammt. Man will dem andern nicht wehtun. Personen, die sich auf dieser Stufe bewegen, leiden unter dem zwanghaften Wunsch, verständnisvoll und einsichtig gegenüber allen Leuten zu sein, deren Gefühlslage wir dem unteren Skalenbereich zurechnen. Solche Personen drängt es, auch Verständnis für brutalste Mörder aufzubringen. Mitgefühl bedeutet, „gemeinsam mit einem andern Menschen empfinden zu können“. Wer demnach imstande ist, sich in die Mentalität eines Menschen mit hohem Emotionsniveau einzufühlen, ist gut dran: Das gemeinsame Empfinden hebt auch ihn. Doch jemand auf Mitleid kann die Leute auf hoher Stimmungsebene nur gerade eben noch tolerieren. Am wohlsten ist ihm zumute, wenn er bekümmerte und apathische Mitmenschen bedauern kann. Natürlich bewirkt diese wechselseitige Art des gemeinsamen Fühlens, dass er wie ein Betrunkener durch die niedrigen Emotionsbereiche taumelt – hin und hergerissen zwischen selbstgefälliger Zärtlichkeit und plötzlichen Tränenausbrüchen. Er wirkt harmlos. Und genau dies will er. Verzweifelt möchte er verhindern, dass man ihn irgendwie beschuldigt. „Siehst du, wie gut ich dich verstehe? Siehst du, dass ich niemanden verletzen kann?“ Seine Sucht nach Lob und seine Furcht vor Schelte machen ihn notgedrungen verständnisvoll. Wir unterhielten uns auf einer netten und ruhigen Gesellschaft über die Zukunft der Religionen, als unser Bekannter Carl verächtlich das Gespräch unterbrach: „Ihr habt doch sicher Schermerhorns Theorie über Strafen und Missstände gelesen?" Keiner war im Bilde, aber Carl redete auch schon verworren weiter. Als er einmal Atem schöpfen musste, nahmen wir unsere Unterhaltung wieder auf. Einer sagte: „Ich finde, die meisten Menschen müssen an etwas glauben, ob man es nun Religion nennt oder nicht. Wenn also. .." Spöttisch fiel Carl dem Sprecher ins Wort: „Das ist doch kindisch! Meiner Meinung nach gibt es nur einen vernünftigen Standpunkt. Vosgartens Abhandlung über die große Besessenheit sagt alles. ..“ Nachdem er zwei Stunden lang Carls unverschämte Arroganz und seine unverständlichen Reden ertragen hatte, fuhr ihm ein anderer Gast scharf in die Parade: „Menschenskind, warum sagen Sie nicht endlich, was Sie eigentlich wollen? Wir verstehen Sie nicht. Wissen Sie denn überhaupt, was Sie da von sich geben?" „Es ist genau so, wie Wumvoogen sagt..." „Fangen Sie nur nicht von neuem an! Ich versuche gerade, Ihnen klarzumachen, dass wir Sie nicht verstehen können. Ihr Geschwätz ist sinnlos. Sie haben zwar die Unterhaltung an sich gerissen, aber nicht das Geringste gesagt. Außerdem hören Sie ja gar nicht zu, wenn die andern Ihnen etwas sagen. Was ist denn mit Ihnen los?" Zu unserer größten Verwunderung fielen Carls Rechtfertigungsversuche wie ein Kartenhaus zusammen, und in seine Augen traten Tränen. Obwohl nun jeder ein wenig Mitleid für ihn empfand und sich bemühte, das Gespräch wieder in allgemeine Bahnen zu lenken, fand sich nur ein zwanghaft mitleidiger Mensch. Eine hübsche junge Frau namens Judith, die sich bis jetzt sehr still verhalten hatte, beugte sich zu ihm. „Carl“, sagte sie, „ich sehe in Ihnen große Qualitäten.“ „Meinen Sie das etwa im Ernst?“ „Ja, natürlich.“ „Ach, viele Leute behaupten das, aber letzten Endes ist es doch bloß Gerede. Es bedarf mehr als nur schöner Worte, um mich zu überzeugen.“ „Ich möchte aber wirklich, dass Sie mir glauben. Ich meine es nämlich ehrlich.“ Hier erlebte ich den Beginn einer Verbindung, die zweifellos komplizierte Folgen haben würde. Judith hatte in Carls grober Anmaßung nichts „Großes“ sehen können. Erst seine hilflose Traurigkeit hatte sie aufgerüttelt. Reizvoll würde dieses Verhältnis gewiss sein. Allerdings würden diese „Reize“ sehr zu Lasten von Judiths (und auch Carls) Seelenleben gehen. Eine unglückliche Geschichte Mitleid wirkt destruktiv, weil es dem Menschen auf niedrigem Emotionsniveau suggeriert: „Die Hilflosigkeit, die du dir selber gegenüber fühlst, ist so gerechtfertigt, dass auch ich sie empfinde.“ Eine derartige Hilfe braucht niemand, denn sie hilft ihm nicht weiter. Sie verstärkt vielmehr die Probleme, nicht aber die Fähigkeit zu deren Lösung. Sie entzieht ihm die Verantwortung. „Ach, du Armer. Die Welt behandelt dich so schlecht.“ Der Mensch in höherem Empfindungsbereich sagt: „Na gut. Das ist eine unglückliche Geschichte. Aber sehen wir doch mal nach, was eigentlich bei der ganzen Sache falsch gelaufen ist. Dann können Sie es ja noch einmal versuchen.“ Doch der chronisch mitleidige Mensch liebt die Gesellschaft. Deshalb gestattet er keinem, sich von einem Fehlschlag zu erholen und nochmals neu zu beginnen. Täte er dies, dann hätte er ja niemanden mehr, dem er sein Mitleid angedeihen lassen könnte. Wer auf hoher Stimmungsebene lebt, wirft dem Ertrinkenden ein Rettungsseil zu. Der stets Mitleidige jedoch springt ins Wasser und ertrinkt gleichfalls.
Die Lebensuntüchtigen
Es kommt vor, dass uns mitleidige Leute lieber sind als die aggressiven zwischen Apathie und Langeweile auf der Skala. Sie machen uns weniger Schwierigkeiten. Sie verlangen nicht, dass wir uns ändern. Sie sind nicht übertrieben kritisch. Wenn wir meinen, den Kopf betten zu müssen, um uns einmal richtig auszuweinen, ist der mitleidige Freund schon da. Es ist ja so bequem, jemanden zu haben, der uns kritiklos akzeptiert, wenn es uns schlecht geht. Doch ein derartiger Mensch ist mehr oder weniger lebensuntüchtig. Er unternimmt nichts, um die Zustände zu verbessern. Eine Person mit hohem Emotionsniveau sagt: „Sie sind angeschlagen, aber wir werden das schon wieder hinkriegen.“ Der Mann auf Stufe hingegen nähert sich auf derselben Wellenlänge und meint: „Ach, du bist ja ganz erschöpft. Wir müssen uns um dich kümmern." Wohlweislich sagt er nicht „in Ordnung bringen“, sondern „kümmern“. Dadurch drückt er eine deprimierende Unbestimmtheit aus. Mitleidige und sich um die Gunst anderer Bemühende findet man vor allem unter kranken Menschen. Und wenn die Leute noch nicht krank sind, dann hilft ein solcher Mensch ihnen, es zu werden. Wird der Empfänger all dieser Freundlichkeiten davon überzeugt, dass er diese „Fürsorge“ braucht, dann bleibt er unten auf der Skala. Der Mitleider ist zu ängstlich, andern weh zu tun, so dass er nichts Wirkungsvolles zustande bringt. Er stimmt nur immer sogleich zu, wenn jemand behauptet, alles sei doch schrecklich. Leute auf hohen Stimmungsebenen scheuen sich nicht, einem andern Menschen einer guten Sache zu liebe einmal Schmerz zu bereiten. Sie vermögen die notwendigen Schritte zu unternehmen. Der Mitleidige dagegen setzt sich zum Alkoholiker und betrinkt sich mit ihm, anstatt ihm zu helfen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, um herauszufinden, ob ein Mensch aus Mitleid handelt oder sich Wohlwollen erkaufen möchte. Zwar weisen beide Stufen einige Unterschiede auf, aber sie liegen dicht beieinander. Eine Mutter sagt beispielsweise. „Es ist heute zu kalt. Du kannst nicht zu Fuß fortgehen.“ (Das ist Mitleid.) Dann aber fährt sie fort: „Ich werde dich in die Schule fahren.“ (Diese Äußerung fällt in die Kategorie des Wohlwollens.) Ein Student meint: „Es ist zu dumm, dass du während der Vorlesungen immer einschläfst. Na ja, nimm meine Notizen. Du kannst sie ruhig abschreiben.“.
Die Sünde des Mitleids
Mitleid kann zu einer Sünde werden, nämlich zur Sünde der Unterlassung. Wer nicht handelt, nicht kontrolliert, nicht zur Ordnung ruft, keine Widerstandskraft aufbringt, der begeht eine Sünde. Die Barmherzigkeit und die Nachsicht des chronisch mitleidigen Menschen bestärken den auf niedrigen Gefühlsebenen Stehenden in seiner Haltung. Der Mitleidige wirkt destruktiv, wenn er mit Leuten zusammen ist, die ihm emotionell überlegen sind. Denn im Geheimen möchte er sie so beeinflussen, dass sie sein Mitleid benötigen. Geduldig wartet er, bis andere einen Rückschlag erleiden – dann wird nämlich er lebendig: Er „dämpft“ sie, indem er sie bemitleidet. Das Mitleid kennt viele Mittel, um Menschen auf höherer Stufe zu „verstümmeln“. Der Chef wird böse, wenn er hört, dass der „pichelnde“ Verkäufer einen Kunden unsanft behandelt. Er möchte ein für allemal reinen Tisch machen. Doch schon naht der Mitleidige und schnurrt besänftigend: „Aber, aber, Chef. Natürlich ist die Sache ärgerlich, aber lassen Sie das mich mal in die Hand nehmen. Ich habe mehr Geduld als Sie.“
An der Spitze der Skala mag Geduld eine Tugend sein, aber bei Mitleid ist sie nur ein beschönigender Ausdruck für, Schwäche. Der tödliche Kreislauf Jeder Mensch, auch jener, der sich oben auf der Skala befindet, verfällt zuweilen in Niedergeschlagenheit. Der Mitleidige jedoch neigt stärker als jeder anders Gestimmte dazu, sich in einem ständigen Kreislauf von Glück und Melancholie zu drehen. Sein „Glücklichsein“ ist nicht besonders wünschenswert: Es ist meist Selbstgerechtigkeit. „Ach, wie bin ich doch so barmherzig und mitleidig! Keinem, der mich brauchte, habe ich jemals den Rücken gekehrt.“ Magisch zieht er die Außenseiter der Gesellschaft an. Er schenkt sein Interesse den Kriminellen, den Invaliden, den Pennern, den Süchtigen, den Trinkern und allen traurigen und apathischen Typen überhaupt, die er nur auftreiben kann. Ihren Lügen geht er sogleich auf den Leim. Ein vom Gram Verzehrter klagt: „Ich habe kein Geld, keine Arbeit, keine Freunde.“ Der Mitleidige erwidert umgehend: „Armer Teufel. Das Leben hat Ihnen bös mitgespielt. Aber ich werde Ihnen selbstverständlich helfen.“ Dann besorgt er eine Bleibe, schafft Essen herbei, steckt dem Gestrandeten Geld in die Tasche – vielleicht sein ganzes Leben lang. Bald fällt auch er dem großen Jammer anheim, und wir hören ihn beteuern: „Ich habe alles nur Mögliche getan, aber nichts scheint zu helfen.“ Wenn der mitleidige Mensch nicht gerade die Armen in der Tiefe umsorgt, verteidigt er doch rücksichtslos die destruktiven Typen auf Furcht bis Langeweile der Skala. Er besteht darauf, dass niemand durch und durch schlecht sei. In Zweifelsfällen gibt er ihnen Recht. Dieser Mensch ist das leichtgläubigste Opfer der im Gefühlsbereich Apathie operierenden Schwindler. Da er im Handumdrehen zu beeinflussen ist, lässt er sich rasch bestechen. Der redegewandte Apathie er kann ihn zu allerlei Perversionen und Verbrechen verführen. Derartige Taten bringen den Mitleidigen naturgemäß in Schwierigkeiten. Und schon hören wir ihn wieder klagen. Da er zu schwach ist, mit den Leuten auf niedrigem Niveau (die er anzieht) richtig umzugehen, bleibt er wie in einem Aufzug eingeschlossen, der vom obersten Stockwerk „Mitleid“ in den Keller „Apathie“ auf und abfährt. Seine zwanghafte Verständnisbereitschaft gestattet ihm keinen Rückzieher. Man vermag ihn an seiner schwankenden Haltung zu erkennen. Selbst wenn Sie ihm klarmachen, dass er sich mit Leuten auf niedrigem Gefühlsbereich abgibt, sieht er sich doch außerstande, sich von ihnen zu lösen. (Er ist dazu auch nicht gewillt, denn dadurch könnte er seine Partner ja kränken.)
Aus diesem Grunde wird ein solch netter Mensch auch so oft an der Nase herumgeführt. Aber er ist ja so edel. Bald kriecht er wieder auf die Stufe des Mitleids zurück und fängt das alte Spiel von neuem an. Im Geschäftsleben Wenn Sie ein Unternehmen leiten und zahlungsfähig bleiben wollen, dann setzen Sie nie einen „Mitleid“ – Menschen als Abteilungsleiter ein. Seine übergroße Angst, andern wehzutun, kann gefährlich werden. Er wird auf seinem Posten nicht viel ausrichten können. Vermutlich wird er Ihre Gewinne verschleudern und „Verlierer“ Typen einstellen, denn er sympathisiert ja so sehr mit ihnen. Er wird nicht eher Ruhe geben, bis Sie das jammernde Mädchen engagiert haben, das im Leben schon so viel Pech gehabt hat. Schützend wird er sich vor einen Mitarbeiter stellen, der seine Zeit vertrödelt, denn er hat „eine kranke Frau und eine ganze Kinderschar.“ Im Familienleben Mitleidige Menschen machen häufig schlechte Partien. Ein reizendes Mädchen heiratet einen Mann, der „auf den Hund gekommen ist“, weil sie es einfach nicht ertragen kann, seine Gefühle zu verletzen. Die Mitleider gehören zu den denkbar schlechtesten Eltern. Ihre Neigung, schlechthin alles zu erlauben, züchtet ein unbeherrschtes Kind heran, das später seinerseits destruktiv handeln wird. Liebevolle Eltern sind rasch mit dem Mitleid bei der Hand. Wer von uns bleibt schon unbeteiligt, wenn wir ein kläglich schluchzendes Kind sehen, dessen Eistüte in den Schmutz gefallen ist? Automatisch tröstet man: „Na, komm. Hör doch auf zu weinen. Ich kauf dir ein neues Eis.“ Damit tun wir dem Kind freilich keinen wirklichen Gefallen: Zwar besänftigen wir es für den Augenblick, aber wir vergessen dabei, dass das Kind aus unserer spontanen Reaktion einen falschen Schluss ziehen kann, der ihm in der Zukunft schaden wird. In den meisten Fällen sagt sich das Kind nämlich im Stillen: „Aha. Es ist also egal, ob ich nachlässig oder vorsichtig bin. Wenn ich bloß laut genug schreie, kommt schon einer an, der mich bedauert und mir hilft.“ Grausam wäre es allerdings, wollten wir lediglich mit den Achseln zucken und brummen: „Da hast du aber Pech gehabt. Du musst künftig besser acht geben.“ Wie verhält sich ein Mensch auf hohem Emotionsniveau in einer solchen Situation? Nun, er gibt dem Kind Gelegenheit, die Situation mit Würde zu meistern und ihn nicht zum Bettler werden zu lassen. Er wird vielleicht fragen, ob der Kleine nicht rasch eine Besorgung machen möchte, um sich dadurch ein neues Eis zu verdienen. Kinder, die immerzu quengeln, verraten dadurch ungewollt, dass sich ihre Eltern in den Regionen des Mitleids und des Gunstbemühens festgefahren haben. Offenbar haben sie dem Begehren ihres Sprösslings bereits wiederholt nachgegeben. Deshalb auf Gräber zu legen. Schlimmer hätte ich mich gar nicht täuschen können. Ich kam zu der einigermaßen schockierenden Erkenntnis, dass diese Stufe eine der am dichtesten bevölkerten der Skala ist. Wer nicht schon dort angesiedelt ist, wird häufig durch die Hilfsaktionen der Öffentlichkeit zum Mitleid geradezu gezwungen.
Beim näheren Studium bemerkte ich, dass sehr viele Leute, die ich besonders gern mochte, bei Mitleid einzustufen waren. Ich hatte sie für "höherstehend“ gehalten. Das Mitleid überzeugt einen Menschen davon, dass er verloren hat. Und glaubt er erst einmal, dass er verlieren kann, dann wird er zum Siegen nicht mehr imstande sein. Wenn ein Mensch die wohlige Wärme des Mitleids entdeckt hat, beginnt er alsbald, sich nach ihr zu sehnen. Er kann derart abhängig von ihr werden, dass er sich einen Unfall oder eine Krankheit herbeiwünscht, damit er ja noch mehr von dieser anheimelnden Wärme bekommt.
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