Tim Berners-Lee hat das World Wide Web erfunden – und dennoch nie versucht, damit persönlich reich zu werden. Seine Haltung zu Offenheit, Zusammenarbeit und Gemeinwohl wurzelt tief in seiner außergewöhnlichen Kindheit, in der Technik, Logik und Neugier im Mittelpunkt standen.
Schon früh hat Tim erlebt, dass Wissen und kreative Ideen wachsen, wenn sie geteilt werden. Seine Eltern, Mary Lee Woods und Conway Berners-Lee, gehörten zu den Pionierinnen und Pionieren der Computerentwicklung. Sie lernten sich beim Ferranti Mark 1 kennen, einem der ersten kommerziell verfügbaren Computer. Diese gemeinsame berufliche Vergangenheit prägte den Geist im Elternhaus: Es wurde viel über Mathematik, logisches Denken und technische Prinzipien gesprochen, aber nie über Ruhm oder Reichtum. Stattdessen stand immer die Frage im Raum, wie man Probleme elegant und sinnvoll lösen kann.
Conway Berners-Lee baute sogar einen Modellcomputer mit Wasserstrahlen, um seinen Kindern anschaulich zu erklären, wie Informationen in einem System fließen. Dieser verspielte, experimentierfreudige Ansatz vermittelte Tim ganz praktisch, dass komplexe Prozesse auf klaren, einfachen Regeln beruhen – und dass man diese Regeln verstehen kann, wenn man neugierig bleibt. Gleichzeitig zeigte ihm seine Mutter, dass wissenschaftliches Denken und menschliche Werte kein Widerspruch sind, sondern einander ergänzen können. Sie war gläubig, aber auch rational und kreativ – eine ungewöhnliche Kombination, die Tim später als prägend beschrieben hat.
Tim wuchs zurückhaltend auf. Er war ein schüchterner Junge, der lieber an Elektronikprojekten bastelte oder sich in Mathematik vertiefte, als auf Schulfeiern zu gehen. Dieses ruhige, fokussierte Arbeiten wurde zu einem Kernmerkmal seiner Persönlichkeit. In der Schule hatte er keinen großen Freundeskreis und keine Freundin; stattdessen fand er seine Welt in Formeln, Schaltkreisen und den Möglichkeiten der aufkommenden Computertechnik.
Als er später am CERN anfing, wurde ihm klar, wie schwierig Zusammenarbeit über Abteilungs- und Ländergrenzen hinweg war. Forschende nutzten unterschiedliche Computer, Datenformate und Systeme, die kaum miteinander kompatibel waren. Informationen verteilten sich über viele Plattformen, und oft erfuhr man nur zufällig im Pausenraum, woran Kolleginnen und Kollegen arbeiteten. Das frustrierte Tim – aber es inspirierte ihn auch. Er erkannte, dass die Welt eine universelle, einfache Methode brauchte, um Informationen zuverlässig miteinander zu verknüpfen.
Seine entscheidende Idee bestand darin, das bestehende Internet – ein Netzwerk von Netzwerken – mit dem Konzept der Hyperlinks zu verbinden. Dadurch würde es möglich werden, mit einem Klick zu einem beliebigen Dokument auf der Welt zu springen. Diese Vision wirkte auf viele zunächst unrealistisch. Die Vorstellung, dass jede und jeder Informationen so leicht veröffentlichen und vernetzen könnte, schien eher futuristisch als unmittelbar umsetzbar.
Doch 1990 entwickelte Tim die erste funktionierende Version des World Wide Web: HTML, HTTP, den ersten Browser und den ersten Webserver. Diese Grundbausteine bildeten das Fundament einer Revolution. Aber ebenso wichtig wie die technische Umsetzung war seine Haltung: Er wollte nicht, dass das Web kontrolliert, begrenzt oder privatisiert wurde. Es sollte ein Werkzeug für alle sein – offen, frei zugänglich und ohne Gebühren.
Deshalb kämpfte er dafür, dass CERN die Web-Technologien 1993 ohne Patente und Lizenzgebühren freigab. Damit verzichtete Tim bewusst auf potenziell enorme Einnahmen. Wäre das Web proprietär geworden, hätte es sich vermutlich viel langsamer und weniger global verbreitet. Viele der Innovationen, die heute unser Leben bestimmen, wären vielleicht nie entstanden. Doch Tim war überzeugt: Nur ein offenes Web könne fair, kreativ und gemeinschaftlich wachsen.
Dass er dadurch weniger reich und weniger berühmt ist als Steve Jobs oder Bill Gates – die ebenfalls 1955 geboren wurden –, störte ihn nie. Ruhm empfand er eher als Belastung denn als Anreiz. Entscheidend war für ihn immer, dass seine Erfindung der Menschheit diente und positive Veränderungen ermöglichte.
In den letzten Jahren blickt er kritischer auf die Entwicklung des Webs. Er sieht mit Sorge, wie große Plattformen durch personalisierte Algorithmen Aufmerksamkeit maximieren – oft auf Kosten von Wohlbefinden, demokratischer Kultur oder sozialem Zusammenhalt. Systeme, die Wut oder Angst verstärken, sind für ihn kein Zufall, sondern das Ergebnis wirtschaftlicher Anreize. Das Web, das ursprünglich Menschen weltweit verbinden sollte, droht in Teilen zu einem Ort zu werden, an dem Spaltung belohnt wird.
Darauf reagiert Tim, indem er an neuen Modellen einer ,,pro-menschlichen" Technologie arbeitet. Mit Projekten wie Solid und der Organisation Inrupt möchte er die Kontrolle über persönliche Daten radikal neu denken. Statt dass Unternehmen riesige Datenmengen zentral speichern, sollen Menschen selbst entscheiden, wo ihre Daten liegen und wer darauf zugreifen darf. Dieses Modell soll das Machtgefüge im digitalen Raum umdrehen und die Abhängigkeit von wenigen großen Konzernen verringern.
Die Welt hat sich seit der Geburt des Webs rasanter verändert, als Tim es sich je hätte vorstellen können. Kommunikation, Medienkonsum, Handel, Bildung – all diese Bereiche funktionieren heute anders als vor wenigen Jahrzehnten. Gleichzeitig vermisst er manches aus der analogen Welt: spontane Begegnungen, Gespräche ohne Ablenkung, Besuche bei Freundinnen und Freunden, weil es sonst keine Möglichkeit gab, in Kontakt zu bleiben.
Heute genießt Tim die Freiheit, durch London zu spazieren, ohne ständig erkannt zu werden. Er bleibt ein leiser, bescheidener Erfinder, der sein Werk lieber in den Hintergrund stellt als sich selbst. Kein Milliardär, kein Superstar – sondern jemand, der der Welt ein Werkzeug geschenkt hat, das unser Leben grundlegend verändert. Und genau diese Rolle liegt ihm am meisten.